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Menschenwürde – Gummibegriff oder schlagkräftiges ethisches Grundprinzip?

In ethischen und rechtlichen Diskussionen um gesellschaftliche Auswirkungen der modernen Biomedizin erfolgt regelmässig der Verweis auf „Menschenwürde“. Doch ist dieser Verweis mehr als ein Appell an eine ethische Grundintuition? Eignet er sich zur Klärung ethischer Probleme? Diese Fragen wurden in der Philosophie in den vergangenen Jahrzehnten kontrovers diskutiert. „Thema im Fokus“ liefert eine Übersicht über den Stand der Debatte um die Menschenwürde.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – so beginnt das deutsche Grundgesetz (Art 1. Absatz 1). In der Schweiz lautet die etwas weniger pathetische Formulierung „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen“ (Bundesverfassung, Art. 7). Gerade das Pathos der Formulierung des Würdeanspruchs in der deutschen Verfassung erweckt den Argwohn so manches Philosophen. Eignet sich der Verweis auf etwas „Unantastbares“ für das Ausloten des ethisch Erlaubten in den komplexen Fragen der Bioethik wie beispielsweise Embryonenforschung? Oder ist der Einwurf der Menschenwürde nicht vielmehr die grosse Moralkeule, mit der alle Ansätze einer Debatte niedergeschlagen werden?

Doch so einfach sind die Alternativen nicht. Bereits in Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes erfolgt der Verweis auf die Menschenrechte, die quasi die Menschenwürde „operationalisieren“. Menschenwürde hat also einen Inhalt, dessen Klärung Gegenstand einer nun schon viele Jahre dauernden Debatte ist. Aus der heutigen Perspektive erscheint dabei die Klärung der folgenden drei Fragen als grundlegend (siehe auch Werner 2000):

  1. Wem kommt Menschenwürde zu?
  2. Was bedeutet, dass Menschenwürde „verletzt“ wird?
  3. Was sollen die Konsequenzen einer Verletzung der Menschenwürde sein?

Gerade die erste Frage hat in den jüngeren Debatten um Menschenwürde stark an Bedeutung gewonnen – beispielsweise hinsichtlich des Problems, ob auch Embryonen Träger von Menschenwürde sein sollen. Die zweite Frage berührt den Kern der laufenden juristischen Debatten – beispielsweise hinsichtlich der Frage, ob fremdnützige Forschung bei Menschen, die ihre Einwilligung dazu nicht mehr geben können, als Verletzung von deren Menschenwürde angesehen werden soll. Die dritte Frage verweist auf die Praktikabilität des Verweises auf die Menschenwürde. Würden bestimmte Handlungen als Verletzungen der Menschenwürde gewertet, die zahlreich und folgenlos vonstatten gingen, so hätte dies Auswirkungen auf die praktische Wirkkraft dieses Appells, der dann gleichsam wirkungslos wird.

Die Antworten auf die drei Fragen hängen natürlich zusammen, wobei die erste Frage wohl am wichtigsten ist. Zwei Konzeptionen der Zuschreibung von Menschenwürde können unterschieden werden:

  • Metaphysische Konzeptionen: Jene Entitäten haben Menschenwürde, welche bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten haben, die man gemeinhin mit dem Begriff der „Person“ in Verbindung bringt (z.B. Bewusstsein, autonomes Handeln etc.). Hier kann noch unterschieden werden, ob diese Eigenschaften real oder nur potentiell (z.B. bei Embryonen) vorhanden sein müssen.

  • Moralische Konzeptionen: Jene Entitäten haben Menschenwürde, welche Urheber wie Adressaten moralischer Normen sind. Diese Position hat ihr stärkstes Fundament in der kantischen Position (siehe unten).

Beide Positionen stützen sich letztlich auf empirische Merkmale ab, die aber doch qualitativ unterschiedlich zu werten sind. Auch moralische Konzeptionen stützen sich auf die Artzugehörigkeit ab, welche ja eine Eigenschaft ist, die von Aussen zugeschrieben wird. Allerdings handelt es sich hier um eine eindeutige und klar definierbare Eigenschaft, was von den „Personen-Eigenschaften“ nicht gesagt werden kann (Werner 2000).

Historische Wurzeln des Würdebegriffs

Eine Begriffsklärung beginnt mit einem Blick auf dessen historischen Wurzeln. Hier zeigt sich, dass der Begriff der „Würde“ von Menschen in der antiken Philosophie zuerst im Kontext von Ehre und sozialer Stellung auftauchte, indem etwa bestimmte politische Ämter mit einer Würde verknüpft waren, die es zu achten galt – sowohl vom Inhaber des Amtes als auch von jenen, die mit dieser Amtsperson verkehrten. Die öffentliche Repräsentation konstituiere die Würde der Person, meinte etwa Cicero (siehe dazu Wils 2002). Die Vorstellung, dass alle Menschen einen durch den Begriff „Würde“ gefassten inneren Wert haben sollen, kam erst in der Stoa auf (um 300 v. Chr.).

Im Mittelalter blieb die begriffliche Fassung von „Menschenwürde“ in der Tradition der stoischen und ciceronischen Überlegungen, wurde aber zusätzlich mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen verknüpft. Die Vernunftnatur des Menschen wurde damit gewissermassen theologisch spezifiziert. In der Renaissance zeigt sich dann langsam eine „Selbstbehauptung“ der menschlichen Würde, die freilich noch im theologischen Fundament bleibt. Pico della Mirandola etwa vertritt mit seiner Schrift „De dignitate hominis“ (1496) die Auffassung, der Mensch vereinige wie Gott eine Fülle von Möglichkeiten in sich, aus denen in Freiheit auszuwählen seine Würde ausmache (Praetorius & Saladin 1996).

Zentral für unser heutiges Verständnis von Menschenwürde ist die Philosophie von Immanuel Kant. Er unterscheidet in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zwei fundamentale Formen ethischer Gegenstände: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, (…) das hat eine Würde“ (zitiert nach Wils 2002). Anders gesagt: Würde ist in einer Güterabwägung unverrechenbar. Sie kommt dem Menschen deshalb zu, weil der Mensch die Fähigkeit hat, sich selbst moralische Gesetze zu geben.

Im kodifizierten Recht taucht „Menschenwürde“ übrigens erst relativ spät auf. Der Begriff erscheint 1933 erstmals in der portugiesischen, 1937 dann in der irischen Verfassung (siehe Praetorius & Saladin 1996). Er gewann dann insbesondere in der deutschen Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg eine grosse Bedeutung – dies als Reaktion auf die Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur.

Zweifel an der Menschenwürde

„Menschenwürde“ hat demnach im Grundrecht eine zunehmend wichtige Rolle eingenommen, doch in der Philosophie war der Begriff weit kontroverser diskutiert worden. Bereits bei Schopenhauer findet sich in „Parerga und Paraliponema“ die Passage, die Rede von der Menschenwürde gehöre zu den „hohlen Redensarten, den Hirngespinsten und Seifenblasen der Schulen, zu Prinzipien, denen die Erfahrung bei jedem Schritt hohnspricht und von welchen ausserhalb der Hörsäle kein Mensch etwas weiss noch jemals empfunden hat.“ Die Kritik an der Geltungskraft, welche man der Menschenwürde in ethischen Debatten zugestehen soll, ist also nicht neu.

Seit den 1990er Jahren haben sich Zweifel am Nutzen des Verweises auf Menschenwürde zur Lösung konkreter ethischer Probleme insbesondere in der Debatte um den Umgang mit Embryonen manifestiert (Birnbacher 1995). Konkret geht es um die Zulässigkeit von Verfahren wie das Klonen von Embryonen für Forschungszwecke (Herstellung von Stammzellen) und Fortpflanzung oder die so genannte Präimplantationsdiagnostik (genetische Prüfung von in vitro erzeugten Embryonen vor der Implantierung in die Gebärmutter). Moser (2001) hat diese Debatte nachgezeichnet, in welcher die Mehrzahl der Philosophen eine Würde-kritische Haltung einnahmen (mit Ausnahme beispielsweise des katholischen Philosophen Wolfgang Spaemann). Der Strafrechtler Utfried Neumann spitzte diese Kritik in einem Essay mit dem Titel „Die Tyrannei der Würde“ zu, indem er fragte, wieso denn biotechnische Eingriffe in die Biologie des Menschen überhaupt eine Würdeverletzung sein könnten, zumal sich diese doch in der vernünftig-sittlichen Natur des Menschen gründe (Neumann 1998). Insofern habe der Verweis auf die Menschenwürde keine Geltungskraft für die Klärung bioethischer Fragen.

Der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin nannte jüngst drei „Krankheiten“, welche den Begriff der Menschenwürde befallen hätten (Nida-Rümelin 2005): Erstens wurde er gewissermassen juristisch okkupiert. Aufgrund des dogmatischen Charakters der Rechtsauslegung würde dies eine philosophische Klärung des Begriffs erschweren. Zweitens sei „Menschenwürde“ theologisiert worden, indem der Begriff in einen unauflöslichen Zusammenhang mit religiösem (bzw. christlichem) Offenbarungswissen gestellt worden sei. Damit aber würde die Geltungskraft des Begriffs vom religiösen Kontext abhängig – er verliere seine Begründungskraft ausserhalb christlicher Glaubensinhalte. Drittens sei der Begriff ideologisiert worden, d.h. er werde als Appell an vermeintlich einleuchtende ethische Grundintuitionen mit dem Ziel benutzt, dass gewisse ethische Debatten gar nicht erst ausgetragen werden.

Von anderer Seite – etwa von Peter Singer – wurde zudem die Beschränkung der Menschenwürde auf den Menschen als Speziesismus kritisiert, als eine ethisch ungerechtfertigte Bevorzugung des Menschen. Dieser Kritikpunkt ist dahingehend aufgegriffen worden, indem seit einigen Jahren auch die „Würde der Kreatur“ in die Debatte eingebracht worden ist (Praetorius & Saladin 1996) – ein kontrovers diskutierter Problemkreis, der hier nicht weiter thematisiert werden soll.

Ausdifferenzierung der Menschenwürde

In den letzten Jahren hat sich diese kritische Grundhaltung der Philosophie gegenüber der Menschenwürde jedoch gewandelt – wohl nicht zuletzt wegen des verstärkten Bezugs auf Menschenwürde in den bioethischen Debatten. Beispielhaft für den Stand der Debatte ist der Sammelband „Menschenwürde“, der die Beiträge eines Workshops anlässlich des 25. Wittgenstein-Symposiums zusammenfasst (Stoecker 2003). Hier ist das ganze Spektrum an Meinungen zu diesem Begriff versammelt. Norbert Hoerster etwa beharrt darauf, dass „Menschenwürde“ ein normativ besetztes Schlagwort ohne jegwelchen deskriptiven Gehalt sei, das sich hervorragend als ideologische Waffe eigne – wie dies auch durch die breite Verwendung des Begriffs belegt werde. Der Zürcher Philosoph Peter Schaber hingegen sieht darin gerade einen Hinweis darauf, dass der Begriff nicht aufgegeben werden könne, sondern präzisiert werden müsse. Schaber sieht Menschenwürde als moralischen Anspruch, der verletzt wird, wenn eine Person erniedrigt wird, sich also in einer Situation befindet, in der sie sich nicht selbst achten kann. Stoecker geht in eine ähnliche Richtung, indem er „Entwürdigung“ so versteht, dass jemand durch andere daran gehindert wird, eine persönliche Identität zu bewahren. Menschwürde wird dadurch zum Anrecht, ein „Selbst“ aufrecht zu erhalten. Peter Baumann vertritt in diesem Band eine „Bedürfnis-Konzeption“ von Menschenwürde. Sein Hauptargument beruht darauf, dass Menschen soziale Wesen sind, angewiesen auf die Anerkennung anderer, um sich selbst respektieren zu können. Menschenwürde bedeutet für ihn demnach, dass man sich gegenseitig diesen Respekt schuldet.

Nida-Rümelin wiederum orientiert sich am israelischen Philosophen Avishai Margalit, der in seinem Buch „The Decent Society“ die normativen Grundlagen einer anständigen Gesellschaft analysiert (Margalit 1999). Seiner Meinung nach ist „Demütigung“ zentral mit Menschenwürde verbunden. Demütigung wird verstanden als alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen. Selbstachtung muss dabei gemäss Nida-Rümelin als ein normativer Begriff gesehen werden, der nicht rein empirisch bestimmt werden kann. Es ist also beispielsweise möglich, dass Menschen gedemütigt werden, ohne sich gedemütigt zu fühlen (und umgekehrt). Keihe Baranzke schliesslich orientiert sich wieder an Kant, wobei sie sich aber gegen eine „Entkörperung“ des Würdebegriffs stellt (2003). Vielmehr habe der Körper als Gegenstand von Liebespflichten durchaus einen Platz in Kants Philosophie. Liebespflichten bedeuten dabei die vernünftig reflektierte Berücksichtigung der physischen und psychischen Bedürfnisse und Bedingtheiten um der Realisierung der Moralität willen – diese Pflichten würden wir heute Menschenrechte nennen.

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