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Tiefe Hirnstimulation: Selbstbestimmung im Vorfeld ist unumgänglich

Markus Christen und Sabine Müller

Die Tiefe Hirnstimulation hat sich in den vergangenen Jahren von einem experimentellen Verfahren zu einer etablierten Behandlungsform von Parkinson und anderen Bewegungsstörungen entwickelt. Man erreicht mit ihr oft gute bis sehr gute Ergebnisse bei der Kontrolle der Symptome von Parkinson. Beim Abwägen für oder gegen einen solchen Eingriff stellen sich aber zahlreiche Fragen. Um Patienten bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen, hat Parkinson Schweiz eine Broschüre zur Tiefen Hirnstimulation herausgegeben, die umfassend über diese neue Therapie informiert.

Nur schwer kann man sich der Suggestivkraft solcher Bilder entziehen: Ein von schwerem Tremor geschüttelter Mann schaltet ein Gerät ein – und er gewinnt auf einen Schlag die Kontrolle über seinen Körper zurück. Solche und andere Videos, präsentiert auf wissenschaftlichen Konferenzen und zunehmend auch auf YouTube einsehbar, begleiten die Entwicklung einer neuen Behandlung von Parkinson und anderen Bewegungsstörungen seit nun schon einigen Jahren. Die Tiefe Hirnstimulation (THS) hat sich nach jahrzehntelanger Forschung zu einem etablierten Verfahren zur Behandlung von Bewegungsstörungen wie Parkinson, Dystonie und Essenziellem Tremor entwickelt. Etwa 85‘000 Personen haben weltweit bereits ein solches Gerät implantiert bekommen; die Zahlen steigen rasch. THS wir auch zur Behandlung von Epilepsie, chronischem Schmerz und Zwangsstörungen eingesetzt und Anwendungen gegen zahlreiche weitere Krankheiten werden erforscht – darunter auch Depression.

Wie THS funktioniert

Auf den ersten Blick wirkt der Therapieansatz der THS überzeugend: Anstatt das Gehirn mit Medikamenten zu überfluten, greift man gezielt in ein gestörtes neuronales Netzwerk ein, indem man an definierten Orten des Gehirns eine Elektrode implantiert und dort mittels einem dauerndem Strom die Aktivität des Netzwerkes gewissermassen normalisiert. Ein ebenfalls implantierter Stimulator, der sich entweder unter dem Schlüsselbein oder im Bauchbereich befindet, steuert diese Elektroden an und man kann die Art der Stimulation von aussen festlegen. Das freilich setzt voraus, dass man das Netzwerk gut kennt und die Elektroden möglichst risikolos am gewünschten Ort einsetzen kann.

Zudem braucht die vom Neurologen durchgeführte Ermittlung der geeigneten Stimulation viel Erfahrung, weil in den meisten Fällen auch nachher noch (wenn oft auch deutlich weniger) Medikamente eingenommen werden müssen. Auch hier muss man also den Parkinson-Patienten gewissermassen „einstellen“, um die beste Wirkung zu erzielen. Da die Stimulation sich dann aber nicht mehr gross ändert, während die Gabe von Medikamenten immer einer gewissen Dynamik und damit Konzentrationsschwankungen unterliegt, lassen sich bestimmte Probleme wie so genannten „off-Zustände“ (in denen die Medikamente nicht gut wirken) deutlich besser kontrollieren. Was THS aber genau im stimulierten Nervengewebe bewirkt, ist immer noch unklar. Die ursprüngliche Vorstellung, dass man die Aktivität dieser Region gewissermassen „abstellt“, hat sich als zu unpräzise erwiesen. Vielmehr findet eine Art „Modulation“ der Aktivität statt, wobei man durch geeignete Stimulation die Aktivität des ganzen Netzwerkes wieder normalisieren kann.

Ein invasiver Eingriff

Auch wenn andere Hirnoperationen wie beispielsweise die neurochirurgische Entfernung eines Hirntumors invasiver sind, so muss man dennoch im Fall der Tiefen Hirnstimulation den Schädel mit einem Bohrer eröffnen und die Elektroden mittels eines so genannten stereotaktischen Rahmens, der zuvor am Kopf des Patienten befestigt werden muss, präzise in tief im Hirn gelegene Regionen einbringen. Dass das Ganze in der Regel am wachen Patienten durchgeführt wird, macht die Sache auch nicht einfacher. So haben viele Patienten Bedenken, ob sie sich einem solchen Verfahren unterziehen sollten oder nicht.

Im Fall von Parkinson hat man aber doch schon mehr als 20 Jahre Erfahrung, wie man einige oder gar die Mehrzahl der Kardinalssymptome der Krankheit mittels THS in den Griff bekommen kann. Da der Eingriff invasiv ist und demnach Operationsrisiken bestehen, die bei medikamentösen Therapien nicht bestehen, kommt die THS in der Regel erst dann zum Einsatz, wenn Medikamente nicht mehr genügend wirken oder unerträgliche Nebeneffekte haben. Mit THS können gute bis sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Voraussetzung dafür ist aber eine sorgfältige Auswahl geeigneter Patienten unter Berücksichtigung zahlreicher Aspekte.

Eine komplexe Abwägung

Für eine sorgfältige Abklärung gibt es zahlreiche Gründe, wie in der neuen Informationsbroschüre „Tiefe Hirnstimulation bei Bewegungsstörungen“ von Parkinson Schweiz dargelegt wird. Die Risiken des Eingriffs selbst sind eine Sache, der Patient muss aber auch in der Lage sein, sich einer sich über mehrere Stunden erstreckenden Operation zu unterziehen. Vom Patienten wird zudem eine Mitarbeit während der Operation verlangt, denn es wird dabei geprüft, ob die Elektroden nun tatsächlich am richtigen Ort sind und den gewünschten Effekt erzielen.

Dazu kommen aber noch weitere zu beachtende Punkte. So ist die Tiefe Hirnstimulation zwar ein vergleichsweise präzises Verfahren. Es werden aber Hirnregionen anvisiert, die nicht nur der Bewegungskontrolle dienen, sondern auch in andere Prozesse involviert sind. Entsprechend kann es zu Nebenwirkungen kommen, die teilweise schwer einzuordnen und zu erfassen sind. Ob und wie stark solche Nebenwirkungen auftreten, hängen von zahlreichen Faktoren ab, so beispielsweise vom konkreten Zielgebiet, von einer möglichen psychiatrischen Vorgeschichte des Patienten, oder von Veränderungen in der Medikation nach der Operation.

Solche „Nebenwirkungen“ beinhalten ein breites Spektrum an möglichen Folgen, die sich nicht alle gleichermassen einfach beurteilen lassen. Grund dafür ist, dass diese Effekte nicht unbedingt von der Stimulation herrühren. Zudem muss man bei der Entscheidungsfindung beachten, dass sowohl die Krankheit selbst wie auch die (meist medikamentösen) Alternativen teilweise ähnliche negative Auswirkungen haben können.

Einige Folgen sind vergleichsweise häufig. So nehmen Patienten nach einer THS-Operation meist an Gewicht zu, was in seltenen Fällen Krankheitswert haben kann. Viele Studien haben Effekte auf geistige Funktionen wie Sprache, Gedächtnis oder Emotionen untersucht. Solche finden sich in der Tat, ihre Bedeutung für den Alltag der Patienten ist aber individuell sehr unterschiedlich. Generell weisen mehrere Studien darauf hin, dass die Patienten die positiven motorischen Verbesserungen meist höher gewichten als Auswirkungen auf Gefühle, Kognition und Verhalten – die mittels Fragebögen erfasste Lebensqualität steigt. Nur in wenigen Fällen kommt es zu schweren psychiatrischen Nebenwirkungen, die Therapien oder Anpassungen bei den Stimulationsparametern nötig machen. Ein gravierendes Problem ist ein in der Fachliteratur beschriebener Anstieg des Suizidrisikos. Dabei ist aber nicht immer klar, ob nun die THS selbst oder andere Faktoren (wie Veränderungen in der Medikation) für solche schweren Folgen verantwortlich sind.

Veränderte Beziehungen

Häufiger, aber schwer zu fassen sind Verhaltensveränderungen, die aus der neu gewonnenen Autonomie dank der positiven Effekte der THS, aber auch aus möglichen Nebenwirkungen resultieren können. Diese können eingeschliffene Beziehungsmuster aufbrechen und zu sozialen Veränderungen führen, mit denen man nicht gerechnet hat. Solche psychosozialen Folgen einer THS-Intervention sind noch wenig untersucht. Entsprechend ist es wichtig, dass bei den Abklärungen für oder wider einen THS-Eingriff die nahen Angehörigen des Patienten einbezogen werden. Mit einer sorgfältigen Abklärung kann auch vermieden werden, dass unrealistische Erwartungen an die Therapie geweckt werden, die dann später enttäuscht werden.

Eine zentrale Botschaft bei der Entscheidungsfindung für oder gegen THS ist die Erkenntnis, dass man die individuellen Voraussetzungen, Wünsche und Möglichkeiten sowohl des Patienten als auch seines Umfelds ins Zentrum stellen muss. Gerade Parkinson ist eine komplexe Krankheit, die den Menschen als Ganzes trifft, nicht nur seine Bewegungsfähigkeit. Entsprechend können unerwünschte Folgen sowohl aus der Krankheit selbst resultieren als auch aus den therapeutischen Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen. Hierbei kann es durchaus zu paradox erscheinenden Folgen kommen: Bei einem Patienten kann eine durch Medikamente ausgelöste Spielsucht mittels THS unter Kontrolle gebracht werden, weil man Dank des Eingriffs die Medikamentendosis reduzieren kann. In anderen Fällen kann THS Hypersexualität auslösen, die erhebliche Spannungen in eine Paarbeziehung bringen. Schwierig sind auch Situationen, in denen die Ergebnisse der Therapie von den Betroffenen unterschiedlich bewertet werden: Ein Patient mag mit der leichten Hypomanie und dem gesteigerten Risikoverhalten nach einer THS gut fertig werden oder den Zustand gar geniessen – doch seine Angehörige stehen sich plötzlich mit einer „neuen Person“ konfrontiert, mit der sie nur schwer zurande kommen. So können soziale Konflikte auftreten bis hin zu Scheidungen – wobei aber das Urteil, inwieweit dies nun als klar negatives Ereignis zu werten ist oder vielmehr Ausdruck einer neuen Lebenskonstellation ist, so klar nicht ist.
 

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