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Hoffen auf das künstliche Auge

Retina-Chips auf dem Weg zur medizinischen Anwendung

In den vergangenen zehn Jahren sind grosse Anstrengungen unternommen worden, um blinden Menschen durch die Implantierung eines Chips wieder Seheindrücke zu vermitteln. Klinische Versuche machen nun deutlich, welche der verschiedenen Konzepte den Weg in die medizinische Anwendung finden könnten.

Eine krankheitsbedingte, fortschreitende Erblindung ist ein schwerwiegender Einschnitt in das Leben eines Menschen. Im Gegensatz zu blind geborenen Menschen, welche die Welt seit Anfang ihres Daseins mit ihren anderen Sinnen erleben und Strategien für ein eigenständiges Leben entwickelt haben, bedeutet ein stetig voranschreitender Verlust der Sehfähigkeit den Abschied vom gewohnten Lebensstil, gefolgt von einer sich über Jahre hinziehenden Abhängigkeit. Gross sind deshalb die Hoffnungen der Betroffenen auf neue medizinische Entwicklungen, die eine verloren gegangene Sehfähigkeit zumindest teilweise wieder herstellen können. Einer der Hoffnungsträger sind sogenannte Retina-Chips. Diese Chips sollen verkümmerte Sinneszellen in der Netzhaut (Retina) ersetzen und den zum Gehirn führenden Sehnerv geeignet stimulieren, so dass verwertbare Bildeindrücke entstehen. Nach jahrelanger Grundlagenforschung liegen nun erste Ergebnisse von klinischen Studien vor.

Kein Allheilmittel

Retina-Chips sind kein Allheilmittel. Die Implantate können nur jenen Menschen helfen, bei denen die Erblindung auf einer fortschreitenden Degeneration der äusseren Netzhaut beruht. Dies ist bei etwa einem Viertel aller Erblindungen in den Industrieländern der Fall. Hauptsächlich betroffen sind Menschen mit Retinis pigmentosa (einem genetisch bedingten Absterben der Sinneszellen) oder einer altersbedingter Makuladegeneration (einer Ablagerung bestimmter Proteine in der Zone mit der höchsten Dichte von Sinneszellen). Diese Krankheiten schädigen die Sinneszellen – die Zäpfchen und Stäbchen – irreversibel und verhindern damit eine Umwandlung des Lichtsignals in elektrische Impulse. Hingegen bleiben die nachgeschalteten Nervenzellen in der Netzhaut intakt. Diese können durch Retina-Chips elektrisch stimuliert werden.

Bereits in den 1950er Jahren wurde versucht, Blinden durch die elektrische Stimulation des visuellen Systems Seheindrücke zu vermitteln. Im Zentrum der damaligen Aktivitäten stand aber das Gehirn selbst – der primäre visuelle Kortex, der sich im Hinterkopf des Menschen befindet. Mittels solcher Stimulationen konnten die Betroffenen zwar Lichtpunkte «sehen» – ein brauchbarer Sinneseindruck ergab sich daraus aber nicht. Das Scheitern dieser frühen Versuche lag nicht nur an den mangelnden technischen Möglichkeiten, etwa hinsichtlich der Konstruktion geeigneter Stimulationselektroden. Viel wichtiger ist, dass bereits im Auge wesentliche Schritte der Verarbeitung der optischen Information stattfinden. Die Netzhaut ist nicht nur ein Sensor, der Lichtreize in elektrische Impulse umwandelt. Sie besteht vielmehr aus verschiedenen Zellarten mit einer charakteristischen Verknüpfung, die beispielsweise zu einer Kontrastschärfung beitragen.

Inwieweit die noch verbliebenen Fähigkeiten der Netzhaut zur optischen Informationsverarbeitung genutzt werden können, hängt davon ab, an welcher Stelle der Netzhaut der Chip eingepflanzt wird. Hier wurden in den vergangenen Jahren zwei Konzepte verfolgt: subretinale (unter der Netzhaut) und epiretinale (auf der Netzhaut) Chips. Beide haben den gleichen elementaren Aufbau. Sie bestehen aus einer sensorischen Einheit, die das optische Signal aufnimmt und in ein elektronisches umwandelt, einer elektronischen Einheit, die Berechnungen und/oder Verstärkungen vornimmt und dem elektronischen Signal ein geeignetes Profil für die Stimulation der Retina gibt sowie einem Elektrodengitter, das die Stimulation auf das Gewebe der Retina überträgt. Die Elektrodendichte des Gitters bestimmt die optische Auflösung des Chips, das heisst die Anzahl «Pixel», die das visuelle Feld ausmachen. Gemäss Simulationsstudien braucht es 600 bis 1000 Pixel für visuelle Fähigkeiten wie Gesichtserkennung oder Lesen. Die meisten heutigen Chips erreichen diesen Wert noch nicht. Mit beiden Typen von Chips wurden aber bereits erste klinische Akutstudien (eine Implantation für wenige Stunden) und Langzeitstudien an Menschen durchgeführt.

Gewisse Probleme treten bei beiden Konzepten auf: So ist die Chip-Technologie auf flache Strukturen ausgerichtet – das Auge hingegen ist gewölbt. Dies kann bei einer dauerhaften Implantation zu einer Irritation der Netzhaut führen und muss entsprechend beachtet werden. Weiter muss das Implantat in geeigneter Weise geschützt werden, so dass die Elektronik nicht beschädigt wird. Das Implantat wiederum darf aber auch die Umgebung nicht schädigen. Hier können die Forscher auf Lösungen zurückgreifen, die bei anderen Implantaten (z. B. Herzschrittmachern) entwickelt worden sind. Im März dieses Jahres hat die kalifornische Firma Second Sight – ein auf die Herstellung von Retina-Chips spezialisiertes Unternehmen – ein weiteres Verfahren vorgestellt. Indem der Chip mit einer Diamantbeschichtung geschützt wird, kann auf ein Schutzgehäuse verzichtet werden, was zur Verkleinerung beiträgt.

Ein weiteres Problem betrifft die Stimulationselektroden. Da diese elektrischen Strom an das Gewebe abgeben, wird lokal Wärme erzeugt, die vom Gewebe abgeführt werden muss. Wird zu viel Wärme erzeugt, kann dies das Gewebe schädigen. Die Ströme dürfen natürlich keine Grössenordnung erreichen, die zu elektrochemischen Reaktionen an den Elektroden führt (z. B. Gasbildung). Dies ist im Fall der Retina-Chips auch nicht der Fall. Hingegen kann die Effektivität der Elektroden nach einigen Jahren abnehmen. Die Ergebnisse von Tierversuchen über einen längeren Zeitraum weisen auf diese Möglichkeit hin. Es ist derzeit noch nicht klar, wie sich dieses Problem bei einem dauerhaften Einsatz solcher Systeme in der Praxis manifestieren wird.

Vor- und Nachteile epiretinaler Chips

Epiretinale Chips werden derzeit von einer deutschen (IIP Technologies), einer amerikanischen (Second Sight) und einer japanischen (Nidek) Firma entwickelt, die jeweils aus grossen universitären Forschungsgruppen hervorgegangen sind. Epiretinale Chips sitzen auf der Innenseite der Netzhaut und befinden sich damit im Glaskörper des Augapfels. Das optische Signal stammt von einer miniaturisierten Kamera, die beispielsweise auf einem Brillengestell befestigt ist. Ein Mikroprozessor bereitet die optische Information ausserhalb des Körpers auf. Das Signal wird dann (z. B. mit einem Laser) an den Chip gesandt und dort in elektronische Impulse umgewandelt, die direkt die Nervenzellen in der Retina (die sogenannten Ganglienzellen) reizen. Der Chip sitzt damit an der Pforte zum Sehnerv, also dort, wo die Verarbeitung der optischen Information im Auge normalerweise endet.

Der Vorteil dieses Verfahrens ist, dass nur wenig Elektronik in das Auge selbst verpflanzt werden muss, dass der Glaskörper als Wärmesenke für die Stimulation dienen kann, und dass (die Vorverarbeitung der Information findet ja ausserhalb statt) eine individuelle Anpassung der Art der Stimulation beziehungsweise ein technisches «upgrade» möglich ist, ohne dass ein weiterer operativer Eingriff nötig ist. Eine klinische Akutstudie der deutschen Forschungsgruppe hat kürzlich die Machbarkeit dieses Konzepts demonstriert. 19 der 20 teilweise total erblindeten Patienten berichteten über eine durch die elektrische Stimulation ausgelöste Sehwahrnehmung.

Hingegen hat dieses Verfahren auch einige praktische wie prinzipielle Nachteile: So ist es nicht einfach, den Chip dauerhaft auf der Netzhaut zu befestigen. Der Nutzer wiederum muss für die Änderung des Blickwinkels den ganzen Kopf drehen. Die Erblindung wird damit für die Aussenwelt ersichtlich, was sich auf die Akzeptanz von epiretinalen Chips auswirken könnte. Als grundsätzlicher Einwand ist schliesslich zu nennen, dass mit diesem Verfahren die noch bestehenden Möglichkeiten der retinalen Informationsverarbeitung nicht ausgeschöpft werden, was eine höhere Anforderung an die Elektronik stellt.

Ein unsichtbares Implantat

Die subretinalen Chips haben dieses Handicap nicht. Sie werden am äusseren Rand der Retina implantiert – also dort, wo sich die (degenerierten) Sinneszellen befinden und die optische Informationsverarbeitung im Auge normalerweise beginnt. Anstelle einer Kamera besitzen diese Chips ein Gitter von Fotozellen, das direkt implantiert wird und Licht in elektrischen Strom umwandelt. Von Aussen ist demnach nicht sichtbar, ob jemand einen Retina-Chip trägt und der Nutzer kann weiterhin mit den Augenbewegungen sein Blickfeld ändern. Auch lassen sich diese Chips besser fixieren. Hingegen fehlt eine dem Glaskörper vergleichbare Wärmesenke, was die Gefahr einer thermischen Schädigung des Gewebes erhöhen kann.

Derzeit existieren mehrere Varianten von subretinalen Chips. Die amerikanische Firma Optobionics hat ein Modell entwickelt, bei dem lediglich der durch die Fotozellen erzeugte Strom für die Stimulation gebraucht wird. Dieses Modell ist bisher am längsten getestet worden. So wird dieser Tage eine Studie mit zehn Patienten vorgestellt, die das Implantat seit 4,5 Jahren tragen. Die Versuche zeigen, dass das Implantat gut vertragen wird und dass Verbesserungen in der optischen Wahrnehmung möglich sind. Diese betreffen aber auch Orte der Netzhaut, die vom Chip gar nicht abgedeckt werden. Man vermutet deshalb, dass die Einpflanzung des Fremdkörpers allein einen positiven Effekt haben kann. Hingegen bestehen grundsätzliche Zweifel, ob die schwachen Ströme bei ungünstigen Lichtbedingungen überhaupt noch eine nutzbare Stimulation erzielen können.

Eine alternative, bisher nur im Tierversuch getestete Version eines subretinalen Chips verwendet chemische Substanzen (Neurotransmitter) anstelle elektrischer Impulse zur Stimulation der Nervenzellen. Damit wird zwar eine Art der Stimulation gewählt, die näher an der Biologie ist; hingegen halst man sich damit auch diverse Probleme auf, etwa die mögliche Verstopfung der hauchfeinen Zuleitungskanäle oder die Frage, wie das Reservoir an Transmittersubstanz wieder aufgefüllt werden könnte. Derzeit arbeitet eine Gruppe in Stanford an diesem Konzept.

Eine dritte Variante eines subretinalen Chips ist von der deutschen Firma Retina Implant entwickelt worden. Der Chip verwendet eine aktive Verstärkung, so dass der Chip auch bei schlechten Lichtverhältnissen die Netzhaut ausreichend stimulieren kann. Diese Verstärkung verlangt eine zusätzliche Einspeisung von Energie, wofür aber auf die bei Cochlea-Implantaten (Implantate in der Gehörschnecke) erprobte Technologie zurückgegriffen werden kann, Strom mittels magnetischer Induktion durch die Haut zu übertragen. Zudem hat der Chip rund 1500 Pixel, besitzt also das Potenzial, einen für komplexe visuelle Aufgaben ausreichenden Bildeindruck vermitteln zu können. Nachdem die Operationstechnik an Schweinen erprobt worden ist, wird derzeit eine klinische Langzeitstudie mit dem neuen Chip vorbereitet. Mit ersten Ergebnissen ist Ende des Jahres zu rechnen. Diese Studie dürfte für die Weiterentwicklung der Retina-Chips bedeutsam werden. Nach Aussage von Walter Wrobel, dem Geschäftsführer der Retina Implant, könne erstmals geprüft werden, welche Lerneffekte bei der längerfristigen Nutzung eines solchen Chips mit geeigneter Auflösung möglich seien.

Von den Cochlea-Implantaten ist bekannt, dass das Gehirn eine bemerkenswerte Plastizität hat und auch aus einem ungewohnten sensorischen Input Sinn abgewinnen kann. Aus diesem Grund können heute taube Menschen bereits kurz nach der Geburt ein Cochlea-Implantat erhalten. Ob dies im Fall von Blindheit auch möglich ist, bezweifelt Wrobel aber. Vermutlich müsse eine Seh-Erfahrung vorhanden sein, damit Retina-Implantate für einen Blinden nutzbringend sein könnten. Damit beschränken sich die Hoffnungen wohl auf jene Menschen, die erst im Verlauf ihres Lebens das Augenlicht verlieren. Erfahrungsgemäss, so Wrobel, seien die Erwartungen bei diesen Menschen am grössten. Viele blind geborenen Menschen hätten hingegen Frieden mit ihrer Erblindung gemacht und gelernt, die Schönheit der Welt mit anderen Sinnen zu erfahren.

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