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Steigende Pflegekosten als Politikum

Verschiedene Faktoren wie die Zunahme der Fallkosten und die demographische Entwicklung werden die Kosten für die Pflege weiter ansteigen lassen. Es stellt sich demnach ein Finanzierungsproblem, zu deren Lösung eine Reihe unterschiedlicher Vorschläge unterbreitet werden. „Thema im Fokus“ gibt einen Überblick zum Stand der Diskussion im Bereich Pflegefinanzierung in der Schweiz.

Ohne Zweifel ist die Pflege eine der zentralen Tätigkeiten im Gesundheitswesen. Sie wird heute nicht mehr nur als Krankenpflege im engeren Sinn verstanden. Pflege beinhaltet mehr als das Ausführen medizinischer Anweisungen, sowie das Verrichten von Tätigkeiten beim Patienten, die dieser wegen Krankheit oder Behinderung nicht mehr selbst machen kann. Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner sieht in der Pflege generell eine Tätigkeit, welche sich mit aktuellen und potentiellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ihrer Behandlung auf das Alltagsleben einzelner Menschen und ihrer Angehörigen befasst. Die Praxis der Pflege differenziert sich heute in verschiedene Bereiche, wobei vorab die Pflegeabteilungen der Spitäler, die Pflegeheime und die Spitex zu nennen sind. Die nachfolgenden Betrachtungen stellen die Pflege älterer Menschen ins Zentrum. In der Schweiz leben derzeit knapp 1.2 Millionen Menschen über 64 Jahre alte Menschen und rund 10% davon gelten als pflegebedürftig. Eine Reihe von bekannten Faktoren lassen erwarten, dass die Kosten für die Pflege in den kommenden Jahren ansteigen werden:

  • Die demographische Entwicklung führt dazu, dass sowohl der relative Anteil älterer Personen an der Gesamtbevölkerung, wie auch die absolute Zahl der betagten Menschen zunehmen werden. Dieser Faktor erhöht einerseits die Zahl der pflegebedürftigen Menschen und verändert andererseits die Finanzierungsströme im Fall eines generationenübergreifenden Finanzierungssystems. Analog zur Alterssicherung werden demnach weniger Beitragszahler pro Empfänger zur Verfügung stehen.
  • Die medizinisch bedingte Häufigkeit der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen nimmt möglicherweise zu – auch als Nebenfolge der demographischen Entwicklung. Hier sind insbesondere die neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer zu nennen. Werden die Leute älter, kommt es vermehrt zum Ausbruch solcher Krankheiten. In den Industriestaaten müssen gegen 30 Prozent aller Menschen ab dem 80. Altersjahr mit einer Demenzerkrankung rechnen. Solche Erkrankungen ziehen einen grösseren Pflegebedarf mit sich als Krankheiten, an denen die Leute in der Vergangenheit zu einem früheren Zeitpunkt gestorben sind. Dieser Aspekt wird aber relativiert durch die Tatsache, dass ältere Menschen in Vergleich zu früher gesünder alt werden – dies als Folge der generell verbesserten Lebensumstände. Somit ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar, wie stark die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen aufgrund medizinischer Aspekte tatsächlich zunehmen wird.
  • Die sozial bedingte Häufigkeit der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen nimmt möglicherweise ebenfalls zu, wobei eine Reihe unterschiedlicher Faktoren darauf Einfluss hat. Die Sachlage ist aber ebenfalls unklar. So lässt sich offenbar – entgegen einem verbreiteten Klischee – heute nicht eindeutig feststellen, dass die Bereitschaft zur innerfamiliären Unterstützung und Pflege gesunken ist. Hingegen dürften kleinere Kinderzahlen pro Familie, weniger enge Paarbindungen (höhere Scheidungsraten) und Unterschiede im Alter von Ehepartner (tendenziell sind die Männer älter als die Frauen) und in der Lebenserwartung von Männern und Frauen (Frauen werden älter) dazu führen, dass weniger Angehörige als potentiell Pflegende zur Verfügung stehen. Es ist aber auch zu erwarten, dass sich infolge des gesellschaftlichen Wandels das „informelle Pflegenetz“ vermehrt aus Freunden denn aus Verwandten zusammensetzen dürfte. Möglicherweise nimmt auch die organisierte Selbsthilfe innerhalb der Generation der alten Menschen zu – jedenfalls zeigt sich seit den 1990er Jahren eine rasche Zunahme von Interessens- und Selbsthilfeorganisationen älterer Menschen. Auch bei diesem Faktor lässt sich demnach nicht genau bemessen, wie stark er zu einer Zunahme der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen führen wird.
  • Die geschilderte Veränderung des Pflegebegriffs kann dazu führen, dass mehr Leistungen (z.B. auch solche, die der Prävention zugeordnet werden könnten) unter „Pflege“ subsumiert werden. Die Dynamik dieses Faktors ist aber ebenfalls schwierig zu bemessen. Fokussiert man beispielsweise die Spitäler in der Schweiz, so zeigte sich eine Abnahme der Zahl der Pflegenden im Zeitraum 1987 bis 1996 – ein Trend, der sich erst Ende der 1990er Jahre umkehrte. Zudem liess sich die Befürchtung, dass ein Ausbau der professionellen Pflege die informelle Pflege beeinträchtigen würde (und damit die Kostensteigerung stützt) bisher nicht erhärten.

Entsprechend schwierig gestaltet sich die Abschätzung der zu erwartenden Kostenzunahme im Bereich Pflege. Eine im April 2006 veröffentlichte Studie prognostiziert eine Verdoppelung der Pflegekosten von 6.5 Milliarden Franken im Jahr 2001 auf 15.3 Milliarden Franken im Jahr 2030. Dies unter der Annahme, dass sich die Demographie entsprechend der gängigen Prognosen entwickeln wird, sowie sich die generelle Kostensteigerung und die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen gleich wie heute verhalten. Werden diese Faktoren günstiger bewertet, würden die Kosten im besten Fall (d.h. bei allen drei Faktoren) im Jahr 2030 gegen 4.4. Milliarden Franken weniger hoch ausfallen. Dies zeigt, wie stark die Ergebnisse solcher Modellrechnungen von deren Voraussetzungen und Annahmen abhängig sind.

Die heutige Pflegefinanzierung

Trotz dieser Unsicherheit bei der Abschätzung der tatsächlichen Kostenzunahme ist klar, dass künftig mehr Kosten für die Pflege anfallen werden. Die heutigen Finanzierungsmechanismen stehen damit vor einer Belastungsprobe, obgleich diese derzeit recht vielfältig sind. Die wichtigste Versicherung ist die Krankenversicherung, welche nach Artikel 25 die Kosten für Leistungen, die generell „der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen“ übernimmt. Darunter fallen auch Pflegemassnahmen, „die ambulant, bei Hausbesuchen, stationär, teilstationär oder in einem Pflegeheim durchgeführt werden“. Mit dem Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) am 1. Januar 1996 wurde bei erforderlichen spitalstationären Behandlungen eine zeitlich unlimitierte Leistungspflicht eingeführt, die neben der medizinischen Behandlung auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung umfasst. Bei einem Aufenthalt im Pflegeheim, was erst mit dem KVG als Leistungserbringerkategorie anerkannt worden ist, übernimmt der Versicherer die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege und bei Krankenpflege zu Hause (Art. 50 KVG, ohne Unterkunft, Verpflegung und Betreuung). Das KVG hat schliesslich auch eine Leistungsausweitung im Bereich der spitalexternen Krankenpflege gebracht.

Dazu kommen verschiedene Sozialversicherungszweige, welche Menschen, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedürfen, eine Geldleistung gewähren, die als Hilflosenentschädigung bezeichnet wird. Wichtig sind schliesslich auch Ergänzungsleistungen, die zum Zug kommen, wenn Eigenmittel und primäre Pflegeleistungen der Sozialversicherungen nicht ausreichen, um den Pflegebedarf zu decken. Rund 60% der in einem Alters- oder Pflegeheim lebenden AHV-berechtigten sollen solche Ergänzungsleistungen erhalten.

Einen Eindruck über die Kosten im Bereich Pflege geben die Ausgaben für Institutionen für Betagte und Chronischkranke sowie den Bereich Spitex. Gemäss dem statistischen Jahrbuch der Schweiz betrugen diese 2003 gut 7.2 Milliarden Franken (14.5% der Gesamtkosten des Gesundheitswesens). Privathaushalte trugen mit knapp 4.4 Milliarden Franken (61%) den Hauptteil der finanziellen Last, die Sozialversicherungen (vorab Krankenversicherung) trugen gut 1.7 Milliarden Franken (24%) bei, Kantone und Gemeinden bezahlten knapp 980 Millionen (14%) und der Rest (gut 170 Millionen) kam aus anderen Quellen. Hier muss aber hinzugefügt werden, dass gegen 40% des Beitrags der Privathaushalte wiederum durch staatliche Sozialversicherungen (Hilflosenentschädigung der AHV, Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe etc.) gedeckt werden.

Revision der Pflegefinanzierung

Diese Verteilung soll sich ändern, denn ab dem 1. Januar 2003 ist die Verordnung über die Kostenermittlung und die Leistungserfassung durch Spitäler und Pflegheime (VKL) in Kraft getreten. Damit ist es den Pflegeheimen ab 2004 möglich geworden, die Heimbewohnerinnen und -bewohner von den Kosten der Untersuchung, Behandlung und Pflegemassnahmen vollständig zu entlasten. Die Schätzungen der dadurch verursachten Zusatzbelastungen für die Krankenversicherer belaufen sich auf 800 Millionen bis 1.2 Milliarden Franken.

Nach Inkrafttreten der VKL haben verschiedene Pflegeheime denn auch höhere Tarife verlangt, was einen starken Kostenschub in der Krankenversicherung befürchten liess. Um den drohenden Kostenschub zu dämpfen, hat das Parlament auf Antrag des Bundesrats in der Herbstsession 2004 als Übergangsregelung den Beschluss gefasst, dass bis zum Inkrafttreten einer neuen Pflegefinanzierung fixe Rahmentarife gelten. In seiner Botschaft zur Pflegefinanzierung vom 16. Februar 2005 hat dann der Bundesrat ein Modell zur Neuordnung der Pflegefinanzierung vorgelegt. Dieses schlägt vor, dass die Krankenversicherung die Leistungen der Behandlungspflege voll decken, an die Leistungen der Grundpflege hingegen nur einen Beitrag ausrichten. Damit die Kosten für die Heimbewohnerinnen und -bewohner sozial abgefedert werden können, sieht die Botschaft vor, den Anspruch auf Hilflosenentschädigung zu erweitern und die Ergänzungsleistungen beim Aufenthalt in einem Pflegeheim anzupassen.

Diese Vorlage stiess in der Vernehmlassung auf Widerspruch. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren und die Verbände der Leistungserbringer lehnten insbesondere die vom Bundesrat vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Grund- und Behandlungspflege ab und bezeichneten sie als unpraktikabel. Die Pflegeverbände forderten zudem eine stärkere Beteiligung der Krankenversicherung an den Pflegekosten und präsentierten ein Modell, das auf einer zeitlichen Abgrenzung der verschiedenen Pflegephasen in Akutpflege, Übergangspflege und Langzeitpflege beruht. Der Ständerat hat sich dann in der Herbstsession 2006 als Erstrat mit dem neuen Modell der Pflegefinanzierung beschäftigt. Er schlägt nun vor, dass der Bundesrat die Pflegeleistungen bezeichnet und nach dem Pflegebedarf abgestufte Beiträge der obligatorischen Krankenpflegeversicherung in Franken festlegt. An der derzeitigen Belastung der Kassen von rund zwei Milliarden solle sich nichts ändern. Gutgeheissen wurden die flankierenden Massnahmen, welche die steigende Belastung der Haushalte durch die Pflege mildern sollen. So werden zuhause lebende Altersrentner künftig bereits bei einer Hilflosigkeit leichten Grades eine Hilflosenentschädigung erhalten und beim Anspruch auf Ergänzungsleistungen wird die derzeit geltenden Vermögensgrenze von 30'900 Franken für Pflegebedürftige im Heim aufgehoben. Das Geschäft geht nun an den Nationalrat.

Mit Sicherheit wird das Thema der Pflegefinanzierung damit ein Politikum bleiben, das auch Raum für neue Vorschläge bietet. So hat die Freisinnig-Demokratische Partei vorgeschlagen, die dritte Säule der Altersvorsorge auszubauen, so dass ein finanzieller Anreiz für eine persönliche Pflegeversicherung entsteht. Das Modell sieht vor, dass Personen ab dem 58. Altersjahr und bis zum 80. Altersjahr freiwillig und steuerbefreit Geld in ein Vorsorgekonto „Säule 3c“ einzahlen können. Dieses soll bei Bedarf für die Deckung der Pflegekosten verwendet werden. Das angesparte Guthaben soll begrenzt und bei Nichtverwendung nachträglich besteuert werden. Der Ständerat hat vorgeschlagen, dass dieses Modell geprüft werden soll.

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