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Palliative Care eröffnet ein breites ethisches Spektrum

Die ethischen Fragen, die durch Palliative Care aufgeworfen werden, hängen entscheidend vom Verständnis von Palliative Care ab. Wird ein enger Begriff von Palliative Care gewählt, wonach diese im Wesentlichen medizinische und pflegerische Massnahmen unmittelbar vor dem Tod umfassen soll, so befinden wir uns im Kontext der Sterbehilfe- bzw. End-of-life-Diskussion. Die hier sich stellenden Fragen sind seit längerem Gegenstand des medizinethischen Diskurses (für eine Übersicht siehe Kunz 2009). Es geht unter anderem um:

  • Entscheidungen über Therapiebegrenzung bzw. -abbruch,
  • Reanimationsentscheidungen,
  • Verzicht auf lebenserhaltende oder -verlängernde Massnahmen,
  • Spezifische Fragen der End-of-Life-Care wie Schmerztherapie, Umgang mit Atemnot, Ernährung und Flüssigkeitszufuhr oder Sedation.

Je nach Kontext kann die Beantwortung solcher Fragen durch zusätzliche Faktoren (z.B. Demenz bei Patienten, Entscheidungen bei Kindern) erschwert werden.

Die Ausführungen im Hauptartikel und Interview zeigen aber, dass eine Verengung von Palliative Care auf solche in der Medizinethik wohlbekannten Fragen dem heutigen Verständnis von Palliative Care nicht gerecht wird. Auch wenn eine Gleichsetzung von Palliative Care mit dem generellen medizinisch-pflegerischen Umgang mit chronischer Krankheit wiederum ein zu weites Verständnis wäre, so befasst sich Palliative Care dennoch mit einem deutlich längeren Zeitraum im Leben eines Patienten als nur dem des unmittelbaren Sterbevorgangs. So sind das Verständnis von Gesundheit und Krankheit, Schmerz und Leiden, Sterben und Tod sowie die Lebensqualität wesentliche Aspekte, die durch Palliative Care berührt werden. Da diese Begriffe immer auch normativ gefärbt sowie gesellschaftlich und individuell beeinflusst sind, öffnet sich ein entsprechend weites Spektrum an ethischen Fragen. Die oben genannten Themen gehören da zweifellos dazu, werden aber durch folgende Themengruppen ergänzt:

  • Lebensqualität im Angesicht der Endlichkeit des eigenen Lebens: „Palliative Care beginnt, wenn dem Patienten selbst bewusst geworden ist, dass seine Krankheit nicht mehr heilbar ist.“ Dieses Zitat aus dem Interview mit Roland Kunz (siehe S. XXX) verdeutlicht nicht nur den Zeitpunkt, ab dem Palliative Care einsetzt, sondern implizit auch, um was es dann gehen wird. Das Bewusstwerden der Endlichkeit des eigenen Lebens weckt Ängste, aber auch Wünsche mit Blick auf die Gestaltung der restlichen Lebenszeit. Der Umgang mit diesen Ängsten und Wünschen mit der Zielvorgabe, die Lebensqualität des Betroffenen für die letzte Lebensphase möglichst zu optimieren, ist hier die zentrale ethische Herausforderung für die Fachpersonen in Medizin und Pflege, Sozialarbeit und Seelsorge, aber auch die Angehörigen und den betreffenden Patienten selbst. Die durch die Krankheit verursachten Einschränkungen und Beschwerden sind dabei ein zentraler Faktor. Aus diesem Grund betrachtet die Palliative Care Schmerzen und Leiden in einem umfassenden Sinn (Total Pain). Sie versucht sie zu lindern, ohne die Leidfähigkeit des Menschen zu negieren und den Mythos einer leidfreien Gesellschaft aufrecht zu erhalten – aber auch ohne die Schmerzen zu bagatellisieren. Es geht darum, die reale Krankheitssituation zu verbessern und die Patienten im Leben mit der Krankheit und dem Sterben in einer ihren Selbstwert und ihre Selbstbestimmung unterstützenden Weise zu begleiten. Mit dem Ziel einer letztlich nur durch den Patienten selbst bestimmbaren, bestmöglichen Lebensqualität wird der Patient in seiner individuellen Lebenssituation im medizinischen Handeln ernst genommen. Für Angehörige und Betreuungsteam beachtenswert ist, dass die Lebensqualität aus der Perspektive des Patienten oft positiver als von aussen beurteilt wird und sich die Perspektive im Verlauf der Krankheit ändern kann.

  • Verortung im Tarifsystem des Gesundheitswesens: Wie schon erwähnt besteht ein Abgrenzungsproblem hinsichtlich der Frage, ab wann jemand ein „Palliative-Care-Patient“ ist. Diese Unschärfe geht mit einem wichtigen Problem einher, weil bei palliativen Problemstellungen häufige Wechsel zwischen stationärer und ambulanter Betreuung charakteristisch sind. Entsprechend komplex gestaltet sich die Tariflage – und in einer Zeit mit zunehmendem Spardruck ist die Gefahr gross, dass dies zulasten des Patienten geht. Wie das im Interview erwähnte Beispiel zeigt, sind viele kleine Massnahmen zum Wohle des Palliativ-Patienten schwer finanzierbar, obwohl sie sich volkswirtschaftlich sogar rechnen würden. Dazu kommt, dass das oft noch dominierende enge Verständnis von Palliative Care (ausgerichtet auf die Sterbephase) den Blick auf mögliche Massnahmen zum Wohle des Patienten verengen kann. So kann es in manchen Fällen durchaus sinnvoll sein, bei einem Palliativ-Patienten Rehabilitationsmassnahmen umzusetzen, da diese die Lebensqualität der noch folgenden Monate deutlich verbessern. Bei einem zu engen Verständnis von Palliative Care könnten solche Optionen aber aus dem Blickfeld fallen – auch im Hinblick auf die Frage, wer eine solche Massnahme finanziert.

  • Umgang mit Ängsten und Hoffnungen, die durch Palliative Care geweckt werden: Die wachsende Bedeutung von Palliative Care kann übertriebene Ängste wie übertriebene Hoffnungen wecken, wobei erstere wohl eher auf der Ebene des Patienten, letztere auf der Ebene der Gesellschaft anzutreffen sind. Die (historische) Verknüpfung von Palliative Care mit Themen wie Sterbehospiz und Sterbehilfe kann beim einzelnen Patienten (oder seinen Angehörigen) ablehnende Reaktionen hervorrufen, wenn das Thema Palliative Care aufgeworfen wird. Dies kann wie eine „Kapitulationserklärung“ wirken, indem man die Botschaft vermittelt, man tue nicht mehr alles, was man könnte. Der Umgang mit solchen Ängsten ist denn auch eine wichtige ethische Herausforderung bei der Implementierung von Palliative Care im medizinisch-pflegerischen Alltag. Auf der gesellschaftlichen Ebene wiederum ist zuweilen die übertriebene Hoffnung anzutreffen, Palliative Care sei gewissermassen eine Patentlösung für das Problem der Sterbe- bzw. Suizidbeihilfe, die dadurch gar nicht mehr nötig seien. Doch dem ist nicht so. Es dürfte Patienten geben, denen auch Palliative Care nicht gerecht wird und denen die Möglichkeit einer Suizidbeihilfe weit mehr entspricht – sowohl mit Blick auf die Krankheit, an der die Betreffenden leiden als auch im Hinblick auf die persönlichen Wertvorstellungen der Betroffenen.

Mit Blick auf diese Probleme kann die Einbettung der Palliative Care in einen breit verstandenen medizinischen aber auch ethischen Kontext am besten gewähren, dass keine überhöhten Ansprüche an die Medizin, z. B. im Sinne einer Lösung von gesellschaftlich-sozialen Problemen, entstehen, sie aber trotzdem an den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen und an der persönlichen Sichtweise von Lebensqualität ausgerichtet ist. Eine solche Palliative Care braucht nicht nur eine Ausbildung in den entsprechenden medizinischen und pflegerischen Möglichkeiten, sondern auch Wissen über die normativen Fragen, die sich im Umgang mit der letzten Lebensphase eines Menschen stellen.

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