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Wachstum der Verwaltung durch Ökonomisierung des Staates?

Vor welchen Herausforderungen steht die Verwaltung des 21. Jahrhunderts? Über diesen Problemkreis diskutierten Fachleute im jüngsten Kolloquium der schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). Im Verlauf der Debatten entwickelte sich eine interessante These: Ist es vielleicht gerade der Ruf nach Markt, welche den Staat aufbläht?

„Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte der Kunden und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.“ Diese subtile Parodie auf den Staat als Manager (Rainer Schweizer) – der Zweckartikel der Bundesverfassung in New-Public-Management-deutsch – markiert eine der Positionen am jüngsten Kolloquium der SAGW. Diskutiert wurde dort in einwöchiger Abgeschiedenheit die Rolle der Verwaltung in einer Zeit, in welcher wesentliche Prozesse staatlichen Handelns durch ökonomische Begriffe eine neue Beschreibung erfahren. Dies drückt sich etwa aus in Forderungen nach Effizienz, Kostenbewusstsein und Kundennähe.

Allgemeine Diskussionen um Verwaltung und Verwaltungsreform kreisen um die Frage nach den Aufgaben des Staates. Dies zeigte sich auch am SAGW-Kolloquium: Meist bildete zwar die Frage, wie die Verwaltung ihre Aufgaben umsetzen soll, den Ausgangspunkt der Diskussionsbeiträge. Die Frage des „wie“ liess sich dann aber nicht trennen von der grundlegenderen Frage, was denn der Staat mit Hilfe seiner Verwaltung angesichts geänderter gesellschaftlicher Umstände nun tun soll. Im Verlauf der Woche bildeten sich zwei Parteien mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was die Ursachen der geänderten Umstände sind, wie der Staat darauf reagieren soll und wie die Verwaltung entsprechend anzupassen ist.

Der Staat als Manager

Über das geänderte Umfeld, in welchem Staat und Verwaltung agieren müssen, herrschte bei den Teilnehmern noch weitgehend Einigkeit: So hat allgemein die „Komplexität“ der staatlichen Regelungsbereiche zugenommen (Annemarie Huber-Hotz). Der Staat werde – so die Meinung der einen Gruppe – zu einem Akteur unter vielen, wie Wirtschaft, Medien oder organisierten Interessensgruppen. Man müsse deshalb von einem „staatszentrierten“ Weltbild Abschied nehmen, die neue „Governance“ stellt den Bürger ins Zentrum (Elke Löffler). Die Verwaltung habe entsprechend die Bürger als Kunden zu betrachten und ihre Dienstleistungen in einem wettbewerbsnah gestalteten Umfeld zu entrichten. Die seit Beginn der 90er Jahre ins Spiel gebrachte Idee des „New Public Management“ (NPM) ist ein wegweisendes Konzept für dieses Verständnis von Staat und Verwaltung. Man geht sogar dazu über, Aufträge verwaltungsintern in Form von „Verträgen“ zu formulieren (Claude Jeanrenaud).

Ebenfalls in dieses Bild passt die Idee der Verwaltung als „vernetzes, lernendes System“, welche mit immer mehr Knoten der komplexen Gesellschaft Verbindung halten muss (Daniel Brühlmeier). Der Staat wird damit zu einem „manager in the middle“ (Stephan Kux), der mittels seiner Verwaltung als „primus inter pares“ zwischen den verschiedenen Gruppen vermitteln soll. Als Beispiel für diese neue Rolle des Staates können kooperative Verfahren in der Raumplanung (Daniel A. Keller) dienen: Um das „öffentliche Interesse“ in der Innenstadtplanung auszuloten, hat das Stadtforum Zürich Gesprächsplattformen organisiert, in welchen sich möglichst viele der betroffenen Parteien äussern konnten. Die Verwaltung war in diesen Foren gar nur als Zuhörer geduldet, konnte aber wichtige Informationen für spätere Entscheide gewinnen. An den Gesprächsforen wiederum wurden keine Entscheide gefällt, sondern man versuchte, möglichst viele Facetten des Problems aufzuzeigen.

Damit entwickelt sich eine Vision von Staat und Verwaltung im Kleid einer modernen, aufgeklärten Managementideologie: Im Kern steht eine effiziente Umsetzung der vom öffentlichen Wohl geforderten Postulate. Öffentliches Wohl erscheint als Konglomerat von Kunden-(Bürger-?) bedürfnissen. Wettbewerb als Kernelemente des Marktes soll – in modifizierter Form – Eingang finden in die Umsetzung von Verwaltungsaufgaben. Die Verwaltung selbst entwickelt sich weg von einem starren Hierarchiesystem hin zu einem adaptiven Netzwerk, ständig bereit, der wachsenden Komplexität der kommenden Aufgaben entgegentreten zu können. Vom „strategisch agierenden, kommunikativen und partizipativen Wissensstaat“ (Stephan Kux) sei die Schweiz mit ihren vierjährigen Legislaturperioden aber noch weit entfernt. Nicht ein Facelifting, sondern regelrecht chirurgische Eingriffe seien deshalb von Nöten.

Der Staat als Autorität

Diese Skizze einer Verwaltung des 21. Jahrhunderts fand natürlich ihre Gegner, welche sich um das Schlagwort „l’éclatement de l’état“ gruppierten (Peter Knoepfel). Deren Kritik setzt dabei bereits bei der diagnostizierten „wachsenden Komplexität“ an. So mag es zwar sicher eine steigende Zahl politischer Themen geben – doch die Frage ist, wie die Verwaltung darauf reagieren soll. Feststellbar ist jedenfalls ein enormes Wachstum an unterschiedlichen Organisationstypen in der Verwaltung: Beauftragte, Informationsdienste, Stäbe, Zentren, Gruppen, Räte, Stellen etc. Diese Organisationstypen entfernen sich zudem vom klassischen Hierarchiemuster, werden autonom und immer aktiver, um damit ihre Existenz zu rechtfertigen. Der Staat schafft sich also bis zu einem gewissen Grad die Komplexität selbst, unter welcher er später leidet. Die Netzwerke, welche dabei entstehen, verschleiern Verantwortlichkeiten und förderten informelle Abmachungen zwischen Verwaltungseinheiten und ihren „Stammkunden“. Die NPM-geprägte Verwaltung entgleitet damit einer demokratischen Kontrolle (Markus Zürcher).

Kennzeichnendes Beispiel für diese Entwicklung sind neue Regeln für die Verfügungsgewalt an öffentlichem Eigentum (Peter Knoepfel), was von der NPM-Bewegung eindeutig verstärkt werde: Verwaltungen sprechen von „unserem Büro und unserem Sitzungszimmer“, von „Zeit, die von ‚den Anderen’ gestohlen“ wird oder gar von „unserem Gesetz, das ‚die Anderen’ nicht anwenden dürften.“

Ursache dieser Entwicklung ist eine Schwerpunktverlagerung weg von einer institutionellen und hin zu einer substanziellen Politik. Statt dass sich der Staat und die Verwaltung um die Pflege jener Regeln bemühen, welche der Gesellschaft das Lösen ihrer Probleme erlauben, soll der Staat gleich selbst die vielfältigen Probleme lösen. Unterstützt wird dieser Prozess von der zunehmenden Anspruchshaltung organisierter Bürgergruppen wie den Nichtregierungsorganisationen, welche die sofortige Lösung von Problemen durch den Staat verlangen.

Die Gegner der „adaptive, netzwerkartige Verwaltung“ wünschen einen Staat, der kein – wenn auch besonderer – Akteur unter vielen ist, sondern sich auf die Schaffung und den Unterhalt jener Regeln beschränkt, welche für das Zusammenleben in der Gesellschaft notwendig sind. Ein solcher Staat zieht sich auf seine Kernaufgaben zurück, herrscht dort aber mit starker Autorität.

Bürger, Politik, Verwaltung, Markt

Wie lassen sich diese zwei Positionen von einem sehr vereinfachten Verständnis der involvierten Parteien beurteilen? Zum einen ist da offenbar der Bürger, der durch Wahlen und Abstimmungen Politik bestimmt, die Verwaltung nutzt und auf dem Markt agiert. Dies sind drei verschiedene Rollen: Als Bürger mit politischen Rechten, als Einwohner mit Pflichten gegenüber der Verwaltung und als Kunde bzw. Anbieter auf dem Markt. Zum zweiten ist die Politik zu nennen, deren Repräsentanten die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufstellen (im Parlament), gemäss diesen regieren und die Umsetzung der Regeln überwachen. Drittens identifizieren wir die Verwaltung als Trägerin des staatlichen Handelns, welche sich am Gemeinwohl orientieren und dabei gewissen Regeln der Effizienz genügen soll. Zentrales Element des Marktes schliesslich ist, dass Bedürfnisse individuell zum Tragen kommen (kurz: jeder kauft, was er will und kann) und dass ein klares Kriterium für das Scheitern eines Marktteilnehmers besteht: Unwirtschaftlichkeit.

Bei jenen, welche den Staat als Manager sehen, findet folgende Gewichtsverlagerung statt: Der Bürger mit Rechten und Pflichten entwickelt sich zum Kunden mit Bedürfnissen – auch gegenüber der Verwaltung. Der Staat wird damit zum Manager dieser Bedürfnisse und fällt demnach in ein ökonomisches Begriffsfeld. Die Verwaltung des Staates agiert nun quasi auf dem „Politik-Markt“ und muss Lösungen (=Produkte) finden für das Drogenproblem, den Verkehrskollaps und viele andere Aspekte der substanziellen Politik. Die Verwaltung darf dabei immer autonomer agieren, über Globalbudgets verfügen und die „de-beamteten“ Untergebenen bei Nichterreichen von „Verträgen“ entlassen – gleichsam unternehmerisch wirken. Die kürzlich publizierte Evaluationsstudie des Pilotprojekt des Bundes „Führen mit Leistungsauftrag und Globalbudget“ hat deutlich ergeben, dass die Amtsleituungen den ihnen gegebenen „unternehmerischen Spielraum“ nicht mehr missen möchten. Doch genau diese Prozesse führen zum kritisierten „l’éclatement de l’état“. Es erscheint beinahe ironisch, dass ökonomische Konzepte wie „Wettbewerb“ den Staat aufblähen sollen.

Ermittlung des öffentlichen Wohls

Doch welcher „Wettbewerb“ herrscht eigentlich?: Es besteht ein – kaum bestrittener – Unterschied zwischen den Leitzielen einer Verwaltung und einem Teilnehmer des Marktes: Erstere orientieren sich am „öffentlichen Wohl“, letztere an der Bedürfnisbefriedigung einer bestimmten Kundengruppe. Wie mehrfach am Kolloquium festgehalten wurde, ist die Ermittlung des „öffentlichen Wohls“ keineswegs einfach – oder etwa doch? Definiert in einer direkten Demokratie die Gesamtheit der Volksentscheide das öffentliche Wohl? Vielleicht muss man nicht so weit gehen. Wichtig ist aber, dass der Begriff „öffentliches Wohl“ nur in Zusammenhang mit einem Verfahren zur Ermittlung seines Inhaltes Sinn macht. Dieses Verfahren ist in einer Demokratie die Wahl und die Abstimmung.

Eine „ökonomisierte“ Verwaltung auf der Suche nach „Marktlücken“ hat nun aber zu wenig konkrete Informationen über das „öffentliche Wohl“, welches sie befriedigen soll. Folglich werden „Kundenbefragungen“, Umfragen und Politik-Evaluationen durchgeführt, um Stimmungen abzuschätzen und den Verwaltungsapparat entsprechend anzupassen. Firmen machen nichts anders auf der Suche nach Marktlücken – und sie haben ausserdem ein hervorragendes Instrument zur Informationsgewinnung: die Preisentstehung auf dem Markt. Der Witz ist, dass jeder die Freiheit hat, Produkte von Firmen zu kaufen oder eben nicht – und damit Informationen über den Wert des spezifischen Bedürfnisses generiert. Bei „Produkten“ der Verwaltung ist dies nicht so.

Aus diesem Grund kann eine Verwaltungseinheit auch nie so scheitern, wie dies bei einem Unternehmen der Fall sein kann. Unwirtschaftlichkeit, Ineffizienz oder Betrug führt bei letzterer langfristig zum Untergang – wenn nicht Staatsgelder locker gemacht werden, da das Unternehmen als „too big to fail“ eingestuft wird. „Unternehmerischer Spielraum“ in der Amtsstube hingegen führt nie zum Konkurs derselben, denn die Möglichkeit von Umbuchung, Verschleierung oder Betrug besteht und damit die Rechtfertigung der Subventionierung durch weitere Steuergelder.

All diese Überlegungen machen deutlich, warum einem bei der Idee, der Staat solle sich zum Manager transformieren, ein ungutes Gefühl einstellt. Das Klischee der verstaubten Amtsstube wünscht sich niemand zurück. Dennoch gibt es grundsätzliche Argumente gegen das beobachtete „l’éclatement de l’état“. Die Idee des Staates uns seiner Verwaltung als Dienstleister zur Befriedigung einer wachsenden Zahl von Bedürfnissen kollidiert mit grundlegenden Intuitionen zur Rolle des Staates als Institution, welche lediglich die Regeln zur Lösung sozialer Probleme aufstellt und diese nicht auch noch selber „effizient“ löst.

Konkret ist beispielsweise fraglich, ob das Aussterben des „Beamten“ mit seinem besonders geschützen Statuts wirklich eine Errungenschaft darstellt. Ein Privatunternehmer kann seine Leute – auch die besten – nach Gutdünken einstellen und entlassen. Der Chef einer Verwaltung kann nun ebenfalls seine Kritiker zwecks „Effizienzsteigerung“ loswerden. Doch ob er Recht hatte, kann sich nie gleichermassen wie bei einem Unternehmen zeigen, denn Konkurs gehen kann er nicht.

Dennoch vermisst man bei den Kritikern des „l’éclatement de l’état“ und des NPM eine Antwort auf das Problem, wie man denn die Effizienz der Verwaltung bestimmen soll. Der Rückbau des Staates auf einen starken Kern, der sich verstärkt der institutionellen Politik widmen soll, mag gerechtfertigt sein. Den duldsamen, in starre Hierarchien eingebettete Beamten will man aber dennoch nicht. Die Gewährleistung der Selbstkontrolle in der Verwaltung eines solchen Staates bleibt eine schwierige Aufgabe.


Die Kolloquien der SAGW

Alljährlich lädt die schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) Fachleute zu einem einwöchigen Kolloquium ein, an welchem – losgelöst vom Alltag der Eingeladenen – intensiv über ein Thema diskutiert wird. An diesen Veranstaltungen sollen die eingeladenen Fachleute neue Impulse für ihre Tätigkeit in Forschung und Beruf erhalten. Damit orientieren sich die SAGW-Kolloquien an der antiken Idee der Akademie als Treffpunkt des wissenschaftlichen Dialogs. Themas der jüngsten Kolloquiums war „Verwaltung im 21. Jahrhundert – gefragt und befragt“. Unter anderem haben folgende Personen (die im Text erwähnten) an der Veranstaltung teilgenommen: Daniel Brühlmeier (Politikwissenschaftler), Annemarie Huber-Hotz (Bundeskanzlerin), Claude Jeanrenaud (Volkswirtschaftler), Donald A. Keller (Raumplaner), Peter Knoepfel (Politikwissenschaftler), Stephan Kux (Politikwissenschaftler), Elke Loeffler (Verwaltungswissenschaftlerin), Rainer J. Schweizer (Jurist) und Markus Zürcher (Soziologe). Im Herbst erscheinen die Beiträge in Buchform.

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