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Über Kulturgrenzen hinweg pflegen und heilen

Die Schweiz erlebt, wie viele andere Länder, eine Zunahme der Migration. Menschen aus anderen Kulturen finden hier temporären Aufenthalt oder gar eine neue Heimat. Für die Medizin bedeutet dies eine zusätzliche Herausforderung, weil andere Vorstellungen von Gesundheit und andere Ansprüche an die Fachpersonen von Medizin und Pflege getragen werden. Dies läuft nicht immer konfliktfrei ab. Als ein wichtiges Problem erweist sich dabei die Sprachbarriere, welche zu Missverständnissen zwischen den Parteien führen können.

Die Diskussion um den Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen im Gesundheitswesen ist nicht einfach: Klischees können dominieren und bestimmte Themen können tabuisiert sein. Eine tiefere Beschäftigung mit diesem Thema zeigt bald einmal dessen Vielschichtigkeit: Kulturelle Aspekte sind von sozio-ökonomischen Bedingtheiten zu unterscheiden. Die Sprache erweist sich oft als Hindernis für die für medizinische Handlungen so wichtige Kommunikation. Manche kulturelle Unterschiede zeigen schliesslich auch mögliche Schwächen des eigenen kulturellen Selbstverständnisses. So können sich kulturelle Unterschiede dahingehend ausdrücken, dass die Patientinnen und Patienten weit mehr von ihrem persönlichen Umfeld getragen werden, als dies bei individualistisch angehauchten Schweizern der Fall ist. Die andere Kultur wirft dann die Frage auf, ob wir unsere persönliche Gesundung vielleicht doch nicht nur ausschliesslich einem professionalisierten Gesundheitssystem delegieren sollten.

Kultur-sensible Betreuung erst am Anfang

Klar ist, dass die Pflege und Betreuung von Menschen aus anderen Kulturen eine grosse Herausforderung für die Berufsleute im Gesundheitswesen ist. Gemäss Annemarie Kesselring, Mitglied der Leitung des Instituts für Pflegewissenschaften der Universität Basel, sind die Schweizer Institutionen mit „kultur-sensiblen“ Betreuungsangeboten noch sehr am Anfang. „Entwicklungen in diesem Gebiet sind notwendig und werden das Schweizer Gesundheitssystem in den kommenden Jahren sehr beschäftigen“, so Kesselring. Speziell gilt dies für Menschen aus anderen Kulturen, die an chronischen Krankheiten leiden oder in der Schweiz alt werden.

Hinter dem Passus „Menschen aus anderen Kulturen“ verbirgt sich eine vielfältige Realität. Eine „andere Kultur“ mag sich durch verschiedene Faktoren auszeichnen, so die Rolle der Religion, die Stellung der Frau, die Bedeutung der Familienbande und gewisse Traditionen und rituelle Handlungen wie beispielsweise die Beschneidung der Geschlechtsteile. Man kann diese Faktoren nicht direkt mit einer geografischen Klassifizierung in Beziehung setzen. So gibt es auch in Ländern aus dem EU-Raum, aus welchen die meisten in der Schweiz lebenden Ausländer stammen, und in der Schweiz selbst beispielsweise religiöse Gruppierungen, deren Werte mit jenen des Gesundheitssystems in Konflikt geraten könnten – man denke etwa an das Verbot der Blutspende bei den Zeugen Jehovas. Andererseits manifestieren sich auch bei Personen, die aus demselben geografischen Raum stammen – beispielsweise Westafrika – unterschiedliche kulturelle Vorstellungen. Ein gut ausgebildeter, im Rahmen des „brain drain“ aus Nigeria in die Schweiz kommender Wissenschaftler mag unsere kulturellen Vorstellungen weit näher sein als die jungen Männer, welche durch die Ausnutzung des Asylrecht in Westeuropa ihr Glück suchen.

Unterschiedliches Verständnis von Gesundheit

Nebst kulturellen Faktoren können auch kollektive Erfahrungen, wie Bürgerkrieg oder Armut, die Art und Weise beeinflussen, wie Ausländer in der Schweiz das Gesundheitssystem nutzen. Xhevat Hasani von der Zürcher Beratungsstelle Derman (siehe „Bücher/Links“) hielt in einem kürzlich erschienenen Interview fest , dass Leute aus dem Kosovo aufgrund der enormen sozialen Probleme viel weniger an ihre Gesundheit denken, als Schweizer: „Unter dem vielen Unglück wie Arbeitslosigkeit, Repression, Gewalt und Folter ist gesund zu sein nur ein kleines Glück“, so Hasani. Dies sei kein kultureller, sondern ein sozioökonomischer Faktor. Gesundheit sei gemäss kosovo-albanischen Verständnis, „wenn man trotz Schwierigkeiten überlebt“. Doch nebst solchen sozio-ökonomischen Aspekten gibt es durchaus auch eine kulturelle Komponente. So ist die Familie die Hauptinstitution in der albanischen Gesellschaft. Wenn sich eine gesellschaftliche Institution wie das Gesundheitswesen oder die Schule in familiäre Angelegenheiten einmischt, kann dies dann missverstanden werden, so Hasani.

In der Pflegepraxis wirken sich kulturelle Unterschiede in mehreren Bereichen aus. Josée Staff-Theis (vgl. mit dem Beitrag auf Seite XXX), Leiterin des Pflegedienstes des Spitals Zofingen, nennt das Auftreten der Angehörigen und die Art ihrer Anteilnahme bei Krankheiten, Unfällen und im Wochenbett als oft beobachtetes Merkmal. Dazu kommen Unterschiede bei der Ernährung und bei Gebetsritualen. Nur selten hingegen treten Probleme auf, wenn muslimische Patienten durch Ärzte/Pflegende des anderen Geschlechts behandelt werden – ein Aspekt, der oft den Weg in die Medien findet.

Sprache als Hindernis

Ein zentraler Aspekt beim Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen ist die Sprache. Gerade bei den in jüngerer Zeit zugewanderten Migrantengruppen aus dem Balkan (albanischer, bosnischer, kroatischer und serbischer Sprache) und aus afrikanischen Ländern (somalisch, arabisch, amharisch, und andere) fehlen beim Medizinpersonal bzw. bei den Patienten oft die nötigen sprachlichen Kompetenzen für den notwendigen sprachlichen Austausch. Man spricht hier von „allophonen Patienten“. Quantitativ wurde das Problem in der Schweiz erstmals 1999 in einer Studie erfasst, in welcher Antworten aus 244 Kliniken ausgewertet wurden. Für gut ein Drittel der Kliniken stellte die Kommunikation mit Fremdsprachigen eine beträchtliche Schwierigkeit dar. Dennoch zogen nur 14% der Kliniken professionelle Hilfe durch Übersetzer bei, während die meisten auf informelle Übersetzer zurückgriffen (Familienangehörige der Patienten, Pflegepersonal etc.). Ein Budget für Übersetzer besteht nur bei 11% der Kliniken.

In jüngster Zeit hat sich das Problembewusstsein bei den Institutionen des Gesundheitswesen aber geschärft. Beispielsweise sind an den Genfer Universitätskliniken dolmetschervermittelte Gespräche institutionell verankert worden. Für Alexander Bischoff, Wissenschaftler am Institut für Pflegewissenschaften der Universität Basel, ist die Sprachbarriere ein wesentlicher Aspekt, welcher den Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen im Gesundheitswesen erschwert. Eine von ihm durchgeführte Studie zeigt auf, dass professionelle Übersetzung das Verhältnis zwischen allophonen Patienten und Medizinpersonen deutlich verbessern können. Er plädiert dafür, dass Kliniken in städtischen Agglomerationen mit hohem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund Zugang zu entsprechend ausgebildete Fachpersonen (DolmetscherInnen, interkulturelle VermittlerInnen) haben sollten.

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