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Theorien zur Entscheidungsfindung – eine kurze Übersicht

Modelle zur ethischen Entscheidungsfindung beruhen auf Theorien über „decision making“, die in zahlreichen unterschiedlichen Wissenschaften wurzeln können: Mathematische Ansätze wie Spieltheorie und Operations Research, psychologische und soziale Theorien der Entscheidungsfindung und neuerdings auch neurobiologische Ansätze können gleichermassen Beiträge zur Modellierung von Entscheidfindungsprozessen liefern. Ein wesentliches Element ethischer Entscheidungsfindung ist dabei, dass normative Ansprüche formuliert werden, welchen diesen Prozessen zugrunde liegen sollten. „Thema im Fokus“ gibt nachfolgend eine Übersicht über die wichtigsten theoretischen Ansätze unterschiedlicher wissenschaftlicher Traditionen zur Modellierung von Entscheidungsfindung.

Menschliche Entscheidungsfindung ist ein überaus breit untersuchtes Phänomen mit einer schier uferlosen Literatur. Dies erstaunt nicht angesichts der Bedeutung, die bestimmte Entscheidungen für die weitere Entwicklung von Individuen, Gruppen und ganzen Staaten haben können – man ist zuweilen geneigt, das ganze Leben als eine Kette von Entscheidungen anzusehen. Der Philosoph Sören Kierkegaard beispielsweise skizziert in seinem Werk „Entweder, Oder“ das Bild, wonach Entscheidungen das Kernmerkmal einer verantwortlichen, sich der Wirklichkeit stellenden Lebensführung bilden (Kierkegaard 2005).

Eine Entscheidung hat dabei nicht viel mit blossem „Verhalten“ zu tun, verstanden beispielsweise als rasche Reaktion auf einen Reiz oder als Befolgung eines instinktgesteuerten Musters. Der Begriff der Entscheidung ist damit konstituierend für den Begriff der (rationalen) Handlung: Handlungen sind Verhaltensweisen, denen eine Entscheidung vorangeht. Psychologisch gesehen weisen dabei (rationale) Entscheidungen folgende definierenden Merkmale auf: Sie sind Ausdruck einer zielorientierten und regelgeleiteten kognitiven Funktion zur Wahl zwischen verschiedenen Optionen, wobei diese Funktion einen Mechanismus zur Bewertung dieser Optionen integriert (Shafir 1999, Dyole 1999). Diese doch schon recht komplexe Definition von „Entscheiden“ (oft wird in wissenschaftlichen Kontexten auch das englische „decision making“ verwendet) verweist auf die zahlreichen Fragen, die sich im Anschluss stellen. So ist offensichtlich, dass sowohl die Fähigkeiten desjenigen, der eine Entscheidung trifft, wie auch der Kontext, in welchem eine Entscheidung verläuft, untersucht werden muss. Hinsichtlich der Entscheidungsoptionen wiederum macht es einen Unterschied, ob die Entscheidung unter Gewissheit (d.h. die damit verbundenen Folgen treffen mit hoher Sicherheit ein), unter Risiko (d.h. man kennt zumindest die Wahrscheinlichkeit bestimmter Folgen) oder unter Ungewissheit (man kennt nicht einmal alle möglichen Folgen bzw. deren Wahrscheinlichkeiten) stattfindet (Detel 2007: 12-38).

Drei Arten von Entscheidungstheorien

Wie kann man nun eine Übersicht über die vielfältigen Theorien über Entscheidungsfindung erhalten, die all diese Probleme aufgreifen müssten? Dazu bieten sich eine Reihe von Dimensionen an, anhand derer man decision making und die damit verknüpften Theorien ordnen kann. Eine gängige Klassifizierung unterscheidet zwischen deskriptiven, normativen und präskriptiven Theorien (Strube 1996):

  1. Deskriptive Ansätze untersuchen, wie Menschen in unterschiedlichen Kontexten – von persönlichen Lebensentscheidungen über Entscheidungsverhalten in Gruppen bis hin zu Entscheidungen in anonymen Kollektiven wie beispielsweise bei einer politischen Wahl – faktisch zu Entscheidungen kommen. Dies unter anderem mit dem Ziel, bestimmende Faktoren im Entscheidungsverhalten zu eruieren, um damit Entscheidungen voraussagen zu können. Die Sozialwissenschaften (z.B. Ökonomie und Politologie), die Psychologie und neuerdings auch die Neurowissenschaften (siehe z.B. Montague 2006) erforschen die damit verbundenen Fragen.

  2. Normative Ansätze legen fest, welche Entscheidungen von Individuen oder Gruppen als „rationale“ Entscheidungen auszuzeichnen sind – sie liefern damit also auch eine Theorie der Rationalität. Sie untersuchen die Konsequenzen verschiedener Rationalitätskonzepte und liefern grundlegende Modelle zur Untersuchung von Entscheidungsverhalten. In diesen Bereich gehören insbesondere philosophisch-ethische Entscheidungstheorien, aber auch die Spieltheorie und die so genannte Rational Choice Theory (siehe unten).

  3. Präskriptive Ansätze schliesslich entwickeln konkrete Handlungsanweisungen und Hilfssysteme, die bei gegebener Zielsetzung und Akzeptanz einer bestimmten Theorie der Rationalität, die Auswahl einer entsprechenden Handlungsalternative ermöglichen. Die Schaffung von Modellen ethischer Entscheidungsfindung gehört in diesen Bereich – oder auch die so genannte Operations Research, ein Teilgebiet der Angewandten Mathematik, das sich mit der Optimierung bestimmter Verfahren beschäftigt und für ein gegebenes Entscheidungsproblem eine optimale Lösung der zulässigen Entscheidungsalternativen finden will.

Normative und präskriptive Ansätze unterscheiden sich dabei primär hinsichtlich ihres Praxisbezugs: Erstere fokussieren Theorien der Rationalität, um damit Kriterien zu gewinnen, wann eine Entscheidung „rational“ genannt werden soll. Je mehr ethische Theorien dabei explizit Teil des Rationalitätsverständnisses sind, desto stärker werden die Begriffe „rational“ und „ethisch“ synonym verwendet. Ein utilitaristisch geprägtes Verständnis von Rationalität liefert beispielsweise bei der „Maximierung des Glücks“ ein Kriterium für die Bewertung von Handlungsoptionen. Wird entsprechend gehandelt, so ist die Entscheidung gleichermassen rational wie ethisch.

Präskriptive Ansätze fokussieren auf die Erzeugung von Verfahren für bestimmte Klassen von Entscheidungsproblemen bei gegebener Theorie der Rationalität. Sie machen gewissermassen da weiter, wo normative Ansätze (oft) aufhören und wollen einen „Werkzeugkasten“ für Entscheidungsprobleme schaffen. Die Übergänge zwischen normativen und präskriptiven Ansätzen sind dabei oft fliessend.

Diese Klassifizierung darf zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bildung von Entscheidungstheorien sowohl deskriptive wie normative Elemente beinhalten, die nicht immer klar voneinander unterschieden werden können. Dies lässt sich am Beispiel der Rational Choice Theory zeigen (Dupuy 1999). Diese geht von der Intuition aus, dass rationales Entscheiden in der Maximierung des subjektiven Erwartungswertes relativ zur verfügbaren Information und zur subjektiven Präferenzordnung besteht. Wenn eine Person X also zwischen den Optionen A und B wählen muss und X aufgrund der verfügbaren Information annimmt, dass die Folgen von A für X zuträglicher sind (also seinen Präferenzen besser entsprechen), ist es rational für X, sich für A zu entscheiden. Diese Vorstellung von Entscheidung beruht auf Überlegungen a priori und nicht auf empirischen Beobachtungen, ist aber eine derart starke Intuition, dass sowohl präskriptive wie deskriptive Ansätze ihre Modellvorstellungen lange Zeit an diesem Ideal ausgerichtet haben. Umgekehrt können insbesondere präskriptive Ansätze nicht „empirisch blind“ sein und so Modelle von Entscheidungsfindung postulieren, die weit weg vom tatsächlichen Entscheidungsverhalten sind. Solche Modelle wären in der Praxis schlicht nicht effektiv. Die nachfolgenden Ausführungen fokussieren deshalb auf deskriptive Entscheidungstheorien.

Maximalistische Konzeptionen und bounded rationality

Man kann deskriptive Entscheidungstheorien anhand des Umfangs an Informationen, die im Entscheidungsprozess zum Tragen kommen, ordnen. Maximalistische Konzeptionen wollen zeigen, dass Menschen bei der Entscheidfindung möglichst viele relevante Informationen beiziehen. Diese Theorien – bedeutsam war unter anderem der Ansatz von John von Neumann und Oskar Morgenstern: „Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten“ (von Neumann & Morgenstern 1944/2004) – siedeln sich nahe bei der Intuition der Rational Choice Theory an, wonach Menschen relativ zur verfügbaren Information entscheiden würden und demnach ein (psychologisches) Bedürfnis hätten, so viel Information wie möglich zu gewinnen, wenn sie in einer Entscheidungssituation stehen. In dieser Vorstellung des menschlichen Entscheidungsverhaltens wurzelte auch das berühmte Entscheidmodell von Benjamin Franklin. Dieser riet seinem vor einer schwierigen Entscheidung stehenden Neffen in einem Brief zu folgendem Verfahren: Er solle alle Pro- und Kontra-Gründe in je einer Spalte auflisten, jedem Grund einen Zahlwert hinsichtlich seiner Wichtigkeit geben und dann quasi mathematisch berechnen, welche Option gewählt werden soll.

So einleuchtend dieses Verfahren auch war, empirische Untersuchungen (vorab in der Psychologie) haben in den vergangenen Jahrzehnten ergeben, dass sich Menschen in vielen Entscheidungssituationen nicht so verhalten (div. Autoren 2007) – maximalistische Konzeptionen bilden also das reale Entscheidungsverhalten nur ungenügend ab. Bereits in den 1950er Jahren postulierte Herbert Simon das Konzept der bounded rationality: Ein Verhalten ist beschränkt rational, wenn man die Suche nach Alternativen stoppt, wenn man eine gefunden hat, mit der man zufrieden ist – ungeachtet dessen, dass es noch eine bessere geben könnte. Dieses Konzept berücksichtigt, dass die Beschaffung von Informationen auch mit Kosten verbunden ist und erklärt demnach (zumindest teilweise), warum Menschen nur in eingeschränktem Masse entscheidungsrelevante Informationen suchen.

Eine wichtige Revision erfuhr dieser Ansatz im Jahre 1979 durch die Prospect Theory (im Deutschen auch „Neue Erwartungstheorie“ genannt) von Daniel Kahneman und Amos Tversky (Kahneman & Tversky 1979). Demnach gebe es bei Menschen systematische Wahrnehmungsverzerrungen, so dass bestimmte Informationen gar nicht adäquat wahrgenommen werden können. Durch zahlreiche psychologische Experimente identifizierten Kahneman und Tversky eine Reihe solcher Verzerrungen wie die Vermessenheitsverzerrung (Überschätzen der eigenen Fähigkeiten und des eigenen Wissens), die Ankerheuristik (eigene Meinungen werden zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen) und die Gewinn-Verlust-Verzerrung (Menschen fürchten Verlust mehr, als sie Gewinn begrüssen).

Minimalistische Konzeptionen

In den letzten Jahren haben so genannte minimalistische Konzeptionen bei deskriptiven Entscheidungstheorien an Bedeutung gewonnen. Diese Theorien besagen, dass Menschen bei Entscheidungen nur sehr wenige Informationen überhaupt einbeziehen und dass viele Entscheidungen massgeblich durch Intuitionen getroffen werden. Ein prominenter Vertreter dieser Konzeption ist Gerd Gigerenzer (Gigerenzer 2006). Er versteht unter Intuitionen (Bauchgefühlen) ein Urteil, das in einer Entscheidungssituation rasch im Bewusstsein auftaucht, dessen Gründe dem Entscheider nicht ganz bewusst sind und das stark genug ist, um danach zu handeln. Solche Bauchgefühle sind Ausdruck von Faustregeln oder Heuristiken, derer sich die Entscheider oft unbewusst bedienen. Beispiele solcher Faustregeln sind: „Entscheide dich für das Bekannte“ oder „Entscheide nur aufgrund eines einzigen Grundes“. Die Umwelt (und damit die konkrete Entscheidungssituation) bestimmt dabei, wie gut oder schlecht eine Faustregel funktioniert, so dass diese Heuristiken gewissermassen einer evolutionären Bewährung unterliegen. Gigerenzer stellt in seinen Untersuchungen fest, dass sich viele Menschen in Entscheidungssituationen auf solche Faustregeln stützen und die Ergebnisse solcher Entscheidungen im Nachhinein als besser bewerten würden, als wenn die Entscheidung durch ein kompliziertes Verfahren zustande gekommen wäre, welches möglichst viele Informationen berücksichtigt hätte.

Auch in den Neurowissenschaften werden Entscheidungsprozesse meist mit minimalistischen Konzeptionen erklärt, welche zudem noch die Rolle des rationalen Denkens weiter unterminieren. Demnach würde ein Entscheider rationale Gründe erst nach dem Entscheid konstruieren – diese hätten demnach keine handlungsleitenden, sondern nur rechtfertigende Funktionen. Hierzu muss aber beigefügt werden, dass jene empirischen Ansätze in der Neurowissenschaft und der Psychologie, welche für minimalistische Konzeptionen plädieren, meist sehr einfache Entscheidungssituationen untersuchen („soll ich A oder B nehmen?“). Auch lassen sich in methodischer Hinsicht weitere kritische Anmerkungen machen, die hier aber nicht weiter erörtert werden können.

Unabhängig davon sind solche deskriptiven Entscheidungstheorien durchaus eine Herausforderung für die Bildung von Entscheidmodellen. In der praktischen Ethik werden in der Regel Modelle favorisiert, welche die normative Forderung stellen, dass möglichst viele relevante Informationen und die dahinterliegenden Werthaltungen während einer Entscheidsituation offengelegt werden sollen (als Beispiel siehe Huppenbauer & De Bernardi 2003) – man orientiert sich also an den maximalistischen Konzeptionen. Ein wichtiger Grund dafür ist natürlich, dass komplexe Entscheidungen oft auch eine juristische Komponente dahingehend haben, dass Entscheidungen zu schlechten Resultaten führen, welche Gegenstand eines Prozesses werden können – und hier werden dann natürlich alle relevanten Gesichtspunkte miteinbezogen. Gigerenzer sieht in solchen juristischen Aspekten eine wichtige Triebkraft dafür, dass medizinische Entscheide oft unter der Bedingung einer „Überinformiertheit“ zustande kommen – zum Schaden des Patienten. Die Frage, welche Rolle man Intuitionen in Theorien ethischer Entscheidfindung zubilligen will, ist demnach ein wichtiger aktueller Forschungsgegenstand der Entscheidungstheorie.

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