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Hirnforschung: Von der Medizin hin zu neuen technischen Lösungen

Sind die Neurowissenschaften die letzte Herausforderung für die Menschheit? Diese Frage stellten sich rund 200 Politiker und Wissenschaftler aus aller Welt am Forum Engelberg. Im Fokus waren medizinische Anwendungen, welche aber nur eine Seite der künftigen Entwicklung wiedergeben. Das Forum Engelberg bietet Gelegenheit, künftigen Perspektiven der Gehirnforschung zu skizzieren.

Markus Christen

„Vielleicht wird einmal der Zeitpunkt kommen, wo Menschen die Neurowissenschaftler als Seelentöter wahrnehmen.“ Mit dieser bewusst überspitzten Bemerkung machte der deutsche Philosoph Thomas Metzinger im März am Forum Engelberg deutlich, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen der modernen Hirnforschung noch nicht absehbar sind. Klar ist, dass in den Erklärungsmodellen der heutigen Neurowissenschaft Begriffe wie „Seele“ und „Geist“ keinen Platz haben – im Alltagsbewusstsein vieler Menschen aber sehr wohl. Je mehr sich nun die Vorgänge im Gehirn der naturwissenschaftlichen Erklärung öffnen und je mehr diese Erkenntnisse den Weg ins Volk finden, desdo antiquierter wirkt das religiös-metaphysische Menschenbild.

Noch scheint aber das Faszinierende an der Gehirnforschung derartige Ängste zu überwiegen. Die Forschung rund um das durchschnittlich 1,3 Kilo schwere Organ in unserem Kopf – die komplexeste uns bekannte Struktur – ist das derzeit wohl am schnellsten wachsende Wissenschaftsgebiet. Ende 1999 ist die sogenannte „Dekade des Gehirns“ zu Ende gegangen, welche der damalige US-Präsident George Bush zu Beginn der 90er Jahre ausgerufen hatte. Wenngleich das Jahrzehnt des Gehirns eher ein PR-Gag als das Manhattan-Projekt der Hirnforschung gewesen sein mag, erwies sich dessen Ausrufung rückblickend als korrekter Kommentar zur stattgefundenen wissenschaftlichen Entwicklung. Neue bildgebende Verfahren wie funktionale Magnetresonanztomographie, der Einzug der Computerwissenschaft in das Denkgebäude der Hirnforschung und die Methoden der Gentechnik zur Entschlüsselung der Molekularbiologie des Hirns ermöglichten in den vergangenen Jahren die Erzeugung einer immensen Datenmenge.

Vom Herz zum Hirn

Dabei wusste man früher nicht einmal über die Bedeutung des Hirns Bescheid: In der Antike stritten sich die damaligen Denker, welcher Teil des Körpers das zentrale Organ des Menschens sei. Hippokrates beispielsweise gab dem Hirn diese Rolle. Einflussreich blieb aber für lange Zeit die Meinung des Aristoteles, der dem Herzen den Vorzug gab. Das Hirn war für ihn lediglich eine Apparatur, welche die animalische Wärme (das vom Herzen erzeugte Lebensprinzip) regulierte, indem es als Kühlorgan wirkte. Diese Ansicht hat Spuren in unserer Sprache hinterlassen, nehmen wir uns doch Dinge „zu Herzen“ und nicht „zu Hirne“.

Doch Aristoteles hatte Unrecht und das Gehirn wurde als Zentralorgan des Menschen erkannt. Unser heutige Verständnis von Hirn und Geist entwickelte sich aber erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts: Naturwissenschaftler wie Johann Evangelista Purkynje (1838 Entdecker der Nervenzelle), Camillo Golgi und Santiago Ramón y Cajal erkundeten die Struktur des Gehirns. Zur selben Zeit entstand die moderne Psychologie (als deren Mitbegründer man den Amerikaner William James nennen kann), welche mit experimentellen Methoden Leistungen des Geistes untersuchten. Diese zwei Forschungsstränge – Psychologie und Neurobiologie – begannen sich Mitte der 1960er Jahre zu vereinen. Man begann, von „Neurowissenschaften“ bzw. „kognitiven Wissenschaften“ zu sprechen.

Wie rechnet das Hirn?

Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sich ein zweiter Strang der heutigen Neurobiologie entwickelt: In der klassischen Systemtheorie und der Physik der Berechnung gründend, hat sich in den vergangenen 20 Jahren die „computationale Neurobiologie“ bzw. die Neuroinformatik herausgebildet. Diese versucht insbesondere, die Informationsverarbeitung im Nervensystem zu verstehen. Basierend auf diesem Wissen solle dann beispielsweise neue Computer, Software für lernende Systeme oder Sensoren entwickelt werden.

Somit lassen sich zwei verschiedene Motivationen unterscheiden, welche die Neurowissenschaftler vorantreiben: Zum einen ist es die Hoffnung, dereinst Erkrankungen des Gehirns wie Alzheimer, Multiple Sklerose oder Parkinson heilen zu können. Zum anderen ist es der Wunsch, in ferner Zukunft die höheren Leistungen des Gehirns bis hin zum Bewusstsein neurobiologisch erklären und dieses Wissen technisch nutzen zu können.

Die neurowissenschaftlichen Vorträge am Forum Engelberg liessen sich vor allem der ersten Motivation zuordnen. Thematisiert wurden in erster Linie Therapieansätze für Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Kreutzfeld-Jakob. Besonders die altersbedingten Gehirnerkrankungen werden heute in der Forschung fokussiert, denn als Folge der steigenden Lebenserwartung wird Altersdemenz künftig eine der grossen Herausforderungen für das Gesundheitswesens werden.

Biologisierung der Psyche

Die Gehirnforschung wird aber den Trend hin zu einer Biologisierung psychischer Aspekte von Gesundheit und Krankheit stark forcieren. Hanns Möhler vom Institut für Pharmakologie der Universität Zürich machte das in seinem Referat deutlich. Vermehrt werden Ursachen von Schizophrenie, Gemütskrankheiten oder Angstzuständen auf der molekularbiologischen und genetischen Ebene gesucht. Auch die neuen bildgebenden Verfahren der Hirnforschung finden vermehrt Anwendung, indem Unterschiede in der Aktivierung von Hinrteilen bei gesunden und kranken Personen bestimmt werden. Möhler: „Das heisst nicht, dass man künftig alle psychischen Krankheiten mit einer Pille kurieren wird. Hingegen werden solche Leiden sicher vermehrt mit molekurarbiologischen oder genetischen Methoden, beispielsweise mit Gen-Chips, diagnostiziert.“

Ein zunehmendes Verständnis des Gehirns wird auch dazu führen, dass man – basierend auf diesem Wissen – technische Geräte herstellen wird, erklärt Kevan Martin vom Institut für Neuroinformatik (INI) in Zürich. Rodney Douglas, ebenfalls Professor am INI erläutert auf Anfrage: „Erkenntnisse über die Informationsverarbeitung in biologischen Systemen werden den Weg zu neuen, bisher unbekannten technischen Anwendungen frei machen.“ Um diese zu entwickeln, werden auf den ersten Blick eher entfernt voneinander liegende Disziplinen wie Biologie, Physik Mathematik und Computerwissenschaft verschmelzen müssen.

Die Neuroinformatiker (im angelsächsischen Sprachraum verwendet man den Begriff „computational Neurobiologists“) verfolgen damit einen „top-down-Ansatz“ Mittels Computermodellen versucht man beispielsweise, Teil-Leistungen von Gehirnen zu modellieren und damit Einblick in die Funktionszusammenhänge zu gewinnen. Der top-down-Ansatz sieht sich mit dem Problem der Komplexitätsreduktion auseinandergesetzt. Das Wissen über die schier unglaubliche Vernetztheit der Nervenzellen lässt sich bis auf weiteres nicht eins zu eins auf Modelle übertragen – geschweige denn, dass die Vernetzung überhaupt im Detail geklärt ist. Bedeutsam für den top-down-Ansatz ist heute das Aufkommen der modernen bildgebenden Verfahren wie die Kernresonanz-Tomographie oder functional MRI, welche eine Zuordnung von bestimmten kognitiven Leistungen zu Hirnteilen zulassen.

Theorie des Bewusstseins

Endziel dieser Bemühungen ist eine Theorie des Bewusstseins, womit die Neurowissenschaftler gewissermassen den Philosophen Konkurrenz machen. Aber auch exotische technische Lösungen wie direkte Schnittstellen zwischen Nervenzellen und technischen Artefakten werden diskutiert. Was jetzt Science-Fiction ist, könnte dereinst möglich werden. Der Philosoph Metzinger meinte in Engelberg: „Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass Bewusstsein technologisch verfügbar wird.“

Die Gesellschaft wird sich dann nach Ansicht von Metzinger mit dreierlei Aspekten auseinandersetzen müssen: Erstens wird sie eine „Anthropologiefolgenabschätzung“ machen müssen: Was passiert, wenn der Glaube an eine Seele ähnlich lächerlich wird wie der Glaube an eine flache Erde? Zweitens wird man eine Bewusstseinsethik entwickeln müssen: Das Wissen über den Mechanismus des Bewusstseins wird uns ungeahnte Manipulationsmöglichkeiten – beispielsweise „wirklich gute“ Drogen – geben. Wir müssen also die Frage beantworten: Welches Bewusstsein wollen wir? Drittens wird man eine Bewusstseinskultur entwickeln müssen. Diese soll uns ermöglichen, den Spielraum unserer möglichen Bewusstseinserfahrungen auch sinnvoll zu nutzen.


Abstract

Sind die Neurowissenschaften die letzte Herausforderung für die Menschheit? Diese Leitfragte stellte sich das diesjährige Forum Engelberg. Die Ergebnisse des Treffens von Wissenschaftlern und Politikern aus aller Welt sowie die kürzlich zu Ende gegangene „Dekade des Gehirns“ (die 90er Jahre) motivieren den vorliegenden Überblick über die Neurowissenschaften. Diese gehören derzeit zu den weltweit am stärksten wachsenden Wissenschaften. Zwei Methoden und Ziele dieser Forschung lassen sich unterscheiden: Der „bottom-up-Ansatz“ versucht, mittels molekularbiologischer und genetischer Methoden die Hirn-Vorgänge auf der Mikroebene zu verstehen. Ein wichtiges Ziel ist dabei die Heilung von Erkrankungen des Nervensystems wie beispielsweise Alzheimer oder Parkinson. Der „top-down-Ansatz“ – beispielsweise der Neuroinformatik – verwendet Ansätze wie die Modellierung bestimmter Leistungen des Gehirns durch Computer oder neuronale Netze. Die damit gewonnenen Erkenntnisse sollen unter anderem dazu dienen, neuartige technische Apparate zu bauen. Unbestreitbar werden die Erkenntnisse der Neurowissenschaften das jetzige Menschenbild ändern und damit weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen haben. Philosophen geben zu bedenken, dass Bewusstsein in einem weit umfassenderen Sinn als heute technologisch verfügbar werden könnte. Damit wird auch die ethische Frage beantwortet werden müssen, welche Formen von Eingriffen in unser Bewusstsein wir akzeptieren dürfen und welche nicht.

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