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Selbstbestimmte Sexualität trotz Behinderung

Der Problemkomplex „Sexualität und Behinderung“ umfasst eine Vielzahl von Facetten, welche nicht zuletzt Aufschluss über das Verständnis von Sexualität und Behinderung geben. „Thema im Fokus“ gibt in dieser Ausgabe einen Überblick über die Problematik und geht vertieft auf den Aspekt von Missbrauch im Fall geistiger Behinderung ein.

Bereits die Begriffe „Sexualität“ und „Behinderung“ für sich genommen bezeichnen Themenkomplexe, die viele, nicht einfach zu beantwortende Fragen aufwerfen. So können wir uns zu ersterem Begriff fragen: Wann ist Sexualität „selbstbestimmt“? Kann es gar so etwas wie ein „Recht auf Sexualität“ geben? Zweifellos leben wir in einer Gesellschaft, in der, wie kaum zuvor, Sexualität zu einem öffentlichen Thema geworden ist: Aufreizende Darstellungen prägen Werbung und Film und jedes noch so unscheinbare sexuelle Problem wird in zahllosen medialen Beratungsforen mehr oder weniger fundiert diskutiert. Das Ausleben von Sexualität wird als inhärenter Teil eines geglückten menschlichen Lebens aufgefasst, was zuweilen in einen eigentlichen sexuellen Leistungsdruck umschlagen kann. Trotz dieser umfassenden öffentlichen Behandlung des Themas ist Sexualität für den Einzelnen ein „schwieriges Thema“ geblieben und das Finden einer eigenen sexuellen Persönlichkeit, die selbstbestimmt mit anderen in einen intimen Kontakt treten kann, bleibt eine Herausforderung für die jeweilige Person

Behinderung von Sexualität

Es verwundert deshalb nicht, dass mit dem Thema „Sexualität und Behinderung“ sehr viele miteinander in Zusammenhang stehende Fragen aufgeworfen werden, welche natürlich auch von der jeweiligen Vorstellung von „Behinderung“ geprägt werden. Unter Behinderung wird heute nicht mehr eine der einzelnen Person zugeschriebene Eigenschaft verstanden, sondern eine komplexe Interaktion von gesellschaftlichen und individuellen Faktoren. Menschen sind nicht primär behindert, sie werden es vielmehr durch die vorhandenen Ausschlussmechanismen der Gesellschaft. So auch im Bereich ihrer Sexualität. Menschen mit Behinderungen werden in der Entwicklung und im Ausdruck ihrer Sexualität behindert. Durch Strukturen, die sie ausschliessen und durch mangelnden Zugang zu Beratung und Unterstützung.“ „

Gemeinhin unterscheidet man zwischen körperlichen und geistigen Behinderungen, dies ist freilich nur eine grobe Klassifizierung, die die Situation der einzelnen Menschen nur annähernd darstellt.. Dennoch hilft sie uns für eine erste Aufschlüsselung der Thematik, da körperliche Behinderungen einen kognitiven Umgang mit dem Thema Sexualität weit weniger erschweren als geistige Behinderungen. Mit anderen Worten vermag ein körperlich behinderter Mensch eine eigene klare Vorstellung von Sexualität zu entwickeln. Er oder sie wird seine oder ihre Beeinträchtigung deshalb in erster Linie als „Behinderung von Sexualität“ auffassen. Unterschiede bestehen zwischen einer angeborenen und später erworbenen körperlichen Behinderung. In ersterem Fall ist man gewissermassen seit Anbeginn der eigenen Persönlichkeit mit einem Körper konfrontiert, der nicht der gängigen Norm entspricht. Vielfach wird Menschen mit Geburtsbehinderung durch notwendige medizinische Massnahmen, chirurgische Eingriffe etc. vermittelt, dass ihr Körper unvollkommen, eher eine Last, denn Möglichkeit positiver Erfahrungen ist. Dieser Umstand erschwert die Entwicklung eines positiven Körpergefühls und kann so die sexuelle Entwicklung beeinträchtigen. Im Fall einer erworbenen körperlichen Behinderung ist man hingegen mit einem Bruch der sexuellen Persönlichkeit konfrontiert. So geht eine Querschnittlähmung mit einem sehr starken, wenn auch nicht notwendigerweise totalen Verlust an sinnlicher Empfindungsfähigkeit der Geschlechtsorgane einher. In solchen Fällen besteht die Herausforderung darin, eine neue Form von Sexualität zu entwickeln, welche die verbleibenden Möglichkeiten des Körpers nutzt - beispielsweise durch eine weniger genitalfixierte Form von Sexualität.

Sexualpädagogik und -assistenz

Im Fall von Menschen mit einer geistigen Behinderung limitieren begrenzte kognitive Ressourcen die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Thema. So unterscheidet sich die körperlich-sexuelle Entwicklung von Menschen mit einer geistigen Behinderung bis auf wenige Ausnahmen nicht von der nicht behinderter Menschen. Hingegen kann es für jemanden mit einer geistigen Behinderung schwierig sein, Körperreaktionen– beispielsweise eine Erektion bei einem Knaben oder das Auftreten der Regelblutung bei Mädchen – richtig zu deuten und zu verstehen. Ausserdem haben Klischeevorstellungen über eine entweder nicht vorhandene oder aber triebhaft-animalisch ausgeprägte Sexualität bei Menschen mit einer geistigen Behinderung über lange Zeit eine eigentliche Sexualpädagogik in diesem Bereich verhindert. Heute hingegen bieten Organisationen wie Insieme in der Schweiz oder die deutsche Pro Familia (siehe Links auf Seite XXX) umfangreiche Literatur über Sexualpädagogik für betroffene Familien wie auch für das Betreuungspersonal in Heimen an. Grundlegendes Ziel der Sexualpädagogik ist es, Menschen mit einer geistigen Behinderung bei der Entwicklung der eigenen sexuellen Persönlichkeit zu unterstützen, aber auch das Respektieren von Grenzen bei anderen zu erlernen.

Heute ist, wie auch im Beitrag von Sonja Hug auf Seite XXX ausgeführt wird, unbestritten, dass geistig behinderte Menschen die Möglichkeit haben müssen, ihre Sexualität auszuleben. Wie genau dies geschehen soll, kann hingegen nicht mit einem einfachen Schema beantwortet werden. Aspekte wie Schwangerschaft, die Übertragung von Geschlechtskrankheiten oder AIDS, müssen mitberücksichtigt werden. Es hängt aber vom Einzelfall ab, ob beispielsweise überhaupt und, falls ja, welche Formen von Empfängnisverhütung in Frage kommen. Hingegen erschöpft sich das Thema Sexualität und geistige Behinderung nicht mehr in Empfängnisverhütung und Aidsprävention. Weitreichender ist das Konzept der „Sexualassistenz“, also die Begleitung des Auslebens von Sexualität von Menschen mit Behinderungen durch Betreuungspersonen. Eine solche Sexualassistenz kann beispielsweise das Beschaffen von Hilfsmitteln wie zum Beispiel einem Vibrator oder das Vermitteln von Kontakten zu Prostituierten beinhalten – also Dinge die durchaus mit den moralischen Vorstellungen des Betreuungspersonals in Konflikt geraten können. Joachim Walter, ein anerkannter Experte im Bereich Sexualität von geistig Behinderten, plädiert für ein eigentliches „Recht auf Sexualassistenz“, ist sich aber der verschiedenen problematischen Aspekte durchaus bewusst. So sollte eine aktive Sexualassistenz mit Körperkontakt nur durch professionelle externe Dienste übernommen werden und nicht durch das Betreuungspersonal in Heimen. In der Schweiz hat diesbezüglich das Projekt der „BerührerInnen“ aufsehen erregt, als sich 2003 die Stiftung Pro Infirmis aufgrund Druck von Spendern aus dem Projekt hatte zurückziehen müssen. Im Januar 2004 wurde das Projekt in eine neu gegründete Trägerschaft ausgelagert, welche seither die Ausbildung und Supervision der „Berührer“ und „Berührerinnen“ übernommen hat.

Das Problem sexuelle Ausbeutung

Ein heikles, oft tabuisiertes Problem im Themenkomplex Sexualität und Behinderung ist der sexuelle Missbrauch, der im Fall geistiger Behinderung weit häufiger vorkommt als bei anderen Bevölkerungsgruppen. Täter sind gemäss einer älteren Untersuchung aus dem Jahr 1995 vor allem andere Menschen mit einer geistigen Behinderung, Angehörige und in geringerem Masse professionelle Betreuungspersonen oder Menschen, die nicht aus dem Bezugsfeld der Betroffenen stammen. Menschen mit einer geistigen Behinderung sind in mehrfacher Hinsicht „ideale Opfer“: Sie stehen in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem engeren Umfeld, was entsprechend ausgenutzt werden kann. Ihre eingeschränkten kognitiven Möglichkeiten erschweren es ihnen, Situationen einzuschätzen und sich gegen Übergriffe frühzeitig zu wehren. Ihre eigene, oft ungefestigte sexuelle Persönlichkeit kann Signale aussenden, die missbräuchlich interpretiert werden können, so dass der Übergriff vom Täter gar nicht als solcher beurteilt wird – besonders, wenn dieser selbst geistig behindert ist. Schliesslich werde Aussagen von Menschen mit geistigen Behinderungen die auf Missbrauch hinweisen oft nicht ernst genommen bzw. in einer „Aussage gegen Aussage“ Situation abgewertet. Oft wird auch behauptet, dass ein sexueller Missbrauch von Frauen mit einer geistigen Behinderung unwahrscheinlich sei, da diese gar keine „sexuell attraktiven“ Opfer seien. Diese Aussage verkennt aber das Wesen des sexuellen Missbrauchs, der in erster Linie als eine Form von Machtmissbrauch zu verstehen ist: Ein Täter sucht jemanden, über den er oder sie Macht ausüben kann und nicht in erster Linie jemanden, der sexuell anziehend ist. Da Menschen mit einer geistigen Behinderung einer besonders verletzlichen Gruppe angehören, sind sie bevorzugte Opfer von Machtmissbrauch. Die oben genannten Probleme erschweren das Erkennen von sexuellem Missbrauch., zumal Signale auch auf andere Probleme Hinweisen können. Solche Signale sind unter anderem Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, ein negatives Körpererleben, selbstzerstörerisches Verhalten, körperliche Beschwerden und auffallende gynäkologische Beschwerden. Treten solche Signale auf, gilt es mit Umsicht und Professionalität zu reagieren. Wichtig ist insbesondere die Betreuung des Opfers und das Schaffen von erneutem Vertrauen als Basis für das Meistern des weiteren Lebens.

Sexualpädagogik und -aufklärung bilden ein wichtiges Element in der Prävention von sexuellem Missbrauch. Wissen über Sexualität und ihre Formen ist eine zentrale Voraussetzung, dass Menschen mit geistigen Behinderungen gewünschten sexuellen Handlungen zustimmen und unerwünschte Kontakte ablehnen können. In diesem Sinn lässt sich die Missbrauchsproblematik nicht von einem positiven Umgang mit Sexualität abkoppeln. Letztere ist nötig, damit Missbrauch als solcher überhaupt erkannt werden kann und nicht als einzig mögliche Form von Sexualität erlebt wird. Das zentrale Postulat im Themenkomplex Sexualität und Behinderung lautet also, dass die Bedingungen für die Möglichkeit des Auslebens einer selbst bestimmten Sexualität geschaffen werden müssen.

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