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Nord-Süd-Gefälle bei ärztlichen Entscheidungen am Lebensende

Bei der Urteilsfindung spielt der kulturelle Hintergrund eine wichtige Rolle

Die Betreuung von Patienten auf Intensivstationen verlangt vom ärztlichen Personal oft schwerwiegende Entscheidungen. Erstmals zeigt eine Studie, dass sich diese Entscheide am Lebensende in den europäischen Ländern deutlich unterscheiden. So wird das Sterben im Norden mehr als im Süden von ärztlichen Entscheiden begleitet.

Sterbehilfe ist seit Jahren einer der Brennpunkte der medizinethischen Debatte. Die Möglichkeiten der modernen Medizin machen das Sterben im Spital immer mehr abhängig von Entscheiden, wie etwa der Frage, ob eine gewisse Therapie fortgesetzt werden soll oder nicht. Insbesondere das medizinische Personal der Intensivstationen steht vor diesem Problem. Medizinethiker wiederum suchen seit langem nach möglichst allgemein gültigen Entscheidungshilfen für derart gewichtige Fragen. Eine Reihe von Untersuchungen über die Ansichten des medizinischen Personals zu Fragen der Sterbehilfe lassen aber die Vermutung zu, dass der kulturelle Hintergrund der in die Entscheidung involvierten Mediziner die Praxis der Sterbehilfe prägt.

Aktive Sterbehilfe ohne Rechtsgrundlage

Erstmals hat nun eine europaweit durchgeführte Studie mit Namen Ethicus1 gezeigt, dass Entscheide am Lebensende auf Intensivstationen durchaus üblich sind, aber stark vom kulturellen Hintergrund der jeweiligen Gesellschaft abhängen. Die Untersuchung wurde so angelegt, dass das medizinische Personal möglichst frei über die Vorgänge auf ihrer Intensivstation berichten konnte, auch wenn gewisse Entscheide keine Rechtsbasis hatten. So wurden aus sieben Ländern Fälle von aktiver Sterbehilfe gemeldet, obwohl diese zum Zeitpunkt der Studie ausser in den Niederlanden nirgendwo legal war. In Holland wird aktive Sterbehilfe seit 1994 unter Bezug auf ein «Notrecht» in bestimmten Fällen nicht strafrechtlich verfolgt. Im April vergangenen Jahres änderte die Gesetzeslage im Sinne einer weitergehenden Entkriminalisierung der Euthanasie. Inzwischen ist auch in Belgien ein Gesetz verabschiedet worden, das aktive Sterbehilfe unter Auflagen erlaubt. Das Gesetz ist hingegen noch nicht in Kraft.

Insgesamt waren 37 Intensivpflegestationen aus 17 europäischen Staaten in die Studie eingebunden _ in der Schweiz machten das Kantonsspital Basel, die Universitätsklinik Genf und das Regionalspital Lugano mit. Zum Zweck der Anonymisierung sowie aus statistischen Gründen wurden lediglich Vergleiche über drei Grossregionen gezogen: Nordeuropa (Dänemark, Niederlande, Finnland, Irland, Schweden, Grossbritannien), Zentraleuropa (Belgien, Deutschland, Österreich, Schweiz, Tschechien) und Südeuropa (Griechenland, Israel, Italien, Portugal, Spanien, Türkei). Zwischen Januar 1999 und Juni 2000 wurden knapp 31 500 Patientinnen und Patienten behandelt, wovon 4248 starben und/oder einer medizinischen Entscheidung unterworfen waren.

Entscheidungen am Lebensende

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Präzisierung medizinischer Entscheidungen am Lebensende. In der Studie lassen sich dabei vier Fälle unterscheiden, welchen die 4248 Patienten unterworfen wurden: Erstens kann entschieden werden, dass trotz Vorhandensein von zusätzlichen Therapien diese bei einem Todkranken nicht mehr angewendet werden _ man entscheidet also gegen neue Behandlungsformen. Zweitens kann entschieden werden, eine begonnene Behandlung abzubrechen. Beide Fälle lassen sich als Varianten der passiven Sterbehilfe bezeichnen, wobei im Zeitraum der Studie nicht alle Patienten verstorben waren. In diese Gruppe fallen auch Todesfälle als Folge palliativer Massnahmen, bei welchen man bei der Gabe von Schmerzmitteln die Möglichkeit eines früher eintretenden Todes in Kauf genommen hatte. Drittens kann explizit entschieden werden, den Sterbeprozess mittels Gabe von Betäubungsmitteln oder Kaliumchlorid zu verkürzen _ der Ausdruck «Euthanasie» wurde bewusst nicht verwendet. Dieser Fall gilt als aktive Sterbehilfe, welche bei allen davon betroffenen Patienten der Studie zum Exitus führte. Viertens kann aber auch _ gemäss dem klassischen Ideal des Arztes _ entschieden werden, alles zu tun, um den Tod des Patienten zu verhindern. Trotzdem ist es in diesem Fall zum Exitus gekommen. Die Entscheidungen am Lebensende wurden in der Studie nicht ausschliesslich von Ärzten, sondern auch von den Angehörigen und den Patienten selbst (Patientenverfügung) getroffen.

In Nordeuropa wurden bei 87 Prozent der Patienten am Lebensende Entscheidungen getroffen, in Zentraleuropa bei 74 Prozent und in Südeuropa lediglich bei 58 Prozent. Ausserdem wartete man in Südeuropa im Schnitt fast sechs Tage, bis erstmals eine solche Entscheidung getroffen wurde, in Zentraleuropa waren es lediglich gut drei Tage und in Nordeuropa sogar weniger als zwei Tage. In Südeuropa wurde zudem in mehr als zwei Dritteln der Fälle lediglich gegen eine zusätzliche Behandlung entschieden, währendem in Nordeuropa in über der Hälfte der Fälle für Behandlungsabbruch entschieden wurde.

Es zeigt sich also, dass sich das medizinische Personal auf Intensivstationen in Südeuropa mit expliziten Entscheiden am Lebensende schwerer tut _ oder sich mehr dem klassischen Arztideal verpflichtet fühlt. Auch haben die Berichte des Personals deutlich gemacht, dass die von Medizinethikern meist bestrittene moralische Relevanz der Unterscheidung zwischen Behandlungsabbruch und Verweigerung neuer Behandlungen im Alltag durchaus von Bedeutung ist.

Markante Unterschiede zeigten sich in der Studie zudem bei den Entscheidungen zur Abkürzung des Sterbeprozesses, auch wenn solche Entscheide insgesamt selten getroffen wurden: Aus Zentraleuropa wurden 79 Fälle von aktiver Sterbehilfe gemeldet (die Mehrzahl stammt aus Belgien), aus Nordeuropa 14 Fälle (obwohl die Niederlande in diese Gruppe fällt) und aus Südeuropa ein einziger Fall. In all diesen Fällen war zuvor die Behandlung abgebrochen worden, doch die Patienten blieben am Leben.

Religion wichtig

Die Vermutung liegt nahe, dass die festgestellten Unterschiede kulturell-religiös bedingt sein könnten. Die Studie hat deshalb auch den Hintergrund bezüglich Religion und Berufspraxis der Ärzteschaft auf den untersuchten Intensivstationen erfasst. Dabei zeigte sich, dass Ärzte mit einem protestantischen, katholischen oder konfessionslosen Hintergrund sich häufiger für einen Behandlungsabbruch entschieden als Ärzte mit einem griechisch-orthodoxen, jüdischen oder islamischen Hintergrund. Letztere waren eher bereit, sämtliche Mittel für den Patienten auszuschöpfen und sie entschieden sich häufiger lediglich dafür, keine weiteren Behandlungen mehr durchzuführen. Wesentliche Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Ärzten fanden sich interessanterweise nicht.

Auch bezüglich Berufspraxis zeigen sich interessante Differenzen. So betrifft in Südeuropa der Entscheid, eine Behandlung abzubrechen, in den meisten Fällen nicht die künstliche Beatmung. Bara Ricou, eine der Schweizer Leiter der Ethicus-Studie, erklärt diesen Sachverhalt mit der eminenten Bedeutung des Atmens in süeuropäischen Kulturen: „Atmen gilt als wesentlicher Ausdruck des Lebens. Das Abschalten der künstlichen Beatmung kommt deshalb für Ärzte beispielsweise aus islamischen Staaten praktisch nicht in Frage, da dies ein Tötungsakt darstellt.“ Die Bedeutung solcher «weicher» Faktoren bei der Entscheidfindung wird auch von anderen Studien gestützt. Vergleichbare Resultate lieferte beispielsweise eine Untersuchung auf Intensivstationen für Frühgeborene. Auch hier waren kulturelle und religiöse Faktoren für das Entscheidungsmuster wesentlich2.

Für Rudolf Ritz, den ehemaligen Leiter der Intensivstation der Universitätsklinik Basel und einer der Schweizer Studienleiter, sind die Resultate nicht überraschend: «Das medizinische Personal in Intensivstationen ist im Alltag oft mit Entscheidungen konfrontiert, die das Weiterleben des Patienten betreffen. Hier gilt es, möglichst unter Einbezug des Patienten und seiner Angehörigen zu entscheiden.» So werde beispielsweise mit schwer kranken Patienten darüber diskutiert, ob gewisse neue Behandlungen bei Komplikationen eingeleitet werden sollen oder nicht. Auf den Schweizer Intensivstationen wurde laut Ritz eher vorsichtiger entschieden als der Durchschnitt der Zentraleuropa-Gruppe, wenn es beispielsweise darum ging, Behandlungen abzubrechen. Fälle von aktiver Sterbehilfe seien, zumindest in Basel, keine vorgekommen.

Für Ritz sind die Ergebnisse der Ethicus-Studie wichtige Entscheidungsgrundlagen für die Gesetzgebung im Bereich der Sterbehilfe. Derzeit wird eine neue Studie in sieben europäischen Staaten durchgeführt. Sie soll abklären, wo genau im Alltag des medizinischen Personals die Grenze zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe verläuft und wie diese Unterscheidung von den Medizinern bewertet wird.

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