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Mit der Studienreform zur „neuen Medizin“

Die vielerorts geforderte „Neuorientierung der Medizin“ wirkt sich auf die Ausbildung der Medizinalpersonen aus. Angehende Human-, Veterinär- und Zahnmediziner, sowie Pharmazeuten und Chiropraktoren sollen eine zeitgemässe Ausbildung erhalten. Die Endfassung des entsprechenden Gesetzes wird derzeit vorbereitet. Doch viele medizinische Fakultäten haben bereits jetzt wesentliche Elemente der Reform umgesetzt, um für den kommenden Verteilkampf gerüstet zu sein.

Zweifellos unzeitgemäss ist das rechtliche Fundament der Ausbildung der sogenannten Medizinalpersonen: Das aus dem Jahre 1877 stammende Gesetz über die Freizügigkeit von Medizinalpersonen orientierte sich an einem pädagogischen Menschenbild, das den Lernenden als abhängig und unselbstständig betrachtete, der von erfahrenen Dozenten mit medizinischem Wissen gefüttert werden will. Dies kontrastiert mit dem Ruf nach einer „Neuorientierung der Medizin“, welche beispielsweise die schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften kürzlich in einem Symposium darlegte. So zeigte eine dort vorgestellte Umfrage, dass zwar die Fachkompetenz von Ärztinnen und Ärzten von der Bevölkerung gewürdigt wird, jedoch Defizite im Bereich Sozialkompetenz reklamiert werden. Medizinische Fragen werden zudem vermehrt unter dem Blickwinkel der Ökonomie betrachtet, was zusätzliche Kenntnisse in nichtmedizinischen Bereichen erfordert. Schliesslich erschallt der Ruf nach einer medizinischen Ethik angesichts der verstärkt öffentlich diskutierten Probleme wie Sterbehilfe, Organtransplantation oder Fortpflanzungsmedizin. Medizinalpersonen sollen auch diesem Gehör schenken.

Die Reform der universitären Grundausbildung will mit dem „Bundesgesetz über die universitäre Ausbildung in den medizinischen Berufen“ (MedBG) diesen geänderten Anforderungen Rechnung tragen. Der Gesetzesentwurf hat im Frühling dieses Jahres die Vernehmlassung überstanden und erhält derzeit im Eidg. Departement des Innern seine eindgültige Form. Im März des kommenden Jahres soll das Gesetz vorliegen, so Hans-Peter Leister, Projektleiter MedBG beim Bundesamt für Gesundheit. Danach folgt die parlamentarische Beratung. In Kraft treten soll das MedBG schliesslich Anfang 2004. Damit sollen aber die Reformbemühungen in den Universitäten nicht gebremst werden. Leister: „Gesetzgebung und Reform bilden parallele Prozesse.“

Die Kernelemente der Reform wurden in der Vernehmlassung praktisch einhellig begrüsst: Mit Formulierung von Ausbildungszielen sollen die Bedürfnisse des Gesundheitswesens und der Berufspraxis bessere Beachtung finden. Die Einführung eines Kreditpunktesystems und der Unterteilung zwischen Kern- und Mantelstudium gibt den Studierenden mehr Freiraum betreffend Inhalt und Ort des Studiums. Die Einführung des Weiterbildungsobligatoriums für Humanmediziner soll diese für die raschen Wandlungen in der modernen Medizin fitter machen. Die neu geforderte Qualitätssicherung mit periodischer Akkreditierungspflicht erlaubt es einer unabhängigen Institution schliesslich, mehr Einfluss auf die Ausbildungsstätten für Medizinalpersonen ausüben zu können. Die Bemühungen zur Einführung einer Akkreditierung laufen parallel zum Aufbau eines Instituts für Qualitätssicherung, wie dies vom Universitätsförderungsgesetz vorgesehen ist.

Reform ist bereit im Gang

Wie eine Umfrage unter den deutschsprachigen universitären Ausbildungsstätten der Schweiz (Basel, Bern und Zürich) zeigt, sind die vom neuen MedBG geforderten Reformen bereits – in unterschiedlichem Masse – vorbereitet bzw. eingeführt worden. Dies kann auf zwei Gründe zurückgeführt werden: Zum einen war der Druck zur Reform bereits hoch genug, um Anpassungen im Rahmen des rechtlich Möglichen einzuleiten. Zum anderen droht weiterhin eine vom Sparzwang diktierte Zusammenlegung medizinischer Fakultäten. So könnten von den fünf humanmedizinischen Fakultäten in Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich dereinst lediglich drei übrig bleiben. Unter der realistischen Annahme, dass Zürich sowie ein welscher Standort gesetzt sind, sind insbesondere Basel und Bern gefordert. Beide medizinischen Fakultäten haben denn auch die Reform stark vorangetrieben, um für Medizinstudierende attraktiver zu werden.

Die medizinische Fakultät der Universität Basel hat vor fünf Jahren mit der Reform begonnen. Im Bericht über den Abschluss der Konzeptphase der Basler Studienrefiorm heisst es nun, Basel habe als erste Universität der Schweiz ein durchgehend reformiertes Curriculum für Studierende der Humanmedizin. „Damit sind zumindest auf der konzeptuellen Ebene die Vorgaben des künftigen MedBG bereits erfüllt“, erklärt dazu Paul Imbach, Reformleiter und Studiendekan der medizinischen Fakultät der Universität Basel. Noch nicht vollzogen ist – wie an den anderen Hochschulen ebenfalls – die Trennung zwischen Kern- und Mantelstudium. Derzeit wird mit Thementagen, die alle 14 Tage stattfinden, ein „kleiner Anfang in Richtung Mantelstudium lanciert“, so Imbach. Basel bemüht sich zudem insbesondere um eine individuelle Betreuung der Studenten und hat dafür Einzeltutorien in der ärztlichen Praxis eingeführt.

An der Medizinischen Fakultät der Universität Bern läuft ebenfalls seit rund fünf Jahren ein Projekt für die Reform des Medizinstudiums. Vizedekan Vinzenz Im Hof erläutert dazu: „Vom ausgebildeten Mediziner wird heute nach sechs Jahren Universität mehr verlangt als nur medizinisches Fachwissen.“ Bereits heute besuchen deshalb Studierende Kurse in Ökonomie und Ethik oder auch in wichtiger werdenden medizinischen Gebieten wie Palliativmedizin. Bern setzt einen Schwerpunkt im Selbststudium, lediglich 19 Wochenstunden Präsenz werden von den Studierenden abverlangt. Im Hof: „Wir fordern von den Studierenden eine selbstgetragene Ausbildung, die Zeiten des „gib mir“ sind vorbei.“ Deshalb legt die Universität Bern ein Schwergewicht auf neue, internetbasierende Lernformen, so dass den Studierenden möglichst viel Informationen für die Vorbereitung von Vorlesungen und anderen Veranstaltungen zur Verfügung stehen. Probleme sieht Im Hof darin, das umfangreiche Stoffprogramm in einem reduzierten Kernstudium unterbringen zu können.

Die medizinische Fakultät der Universität Zürich ist in der Umsetzung der Studienreform weniger weit als Basel und Bern. Aufgebaut wurden bisher die Strukturen zur Umsetzung der Reform. Inhaltliche Akzente wurden Ende Mai dieses Jahres von der medizinischen Fakultät gesetzt. Einen Schwerpunkt setzt Zürich im engen Verbund von Lehre und Forschung. Wolfgang Gerke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsstelle Studienreform, erklärt dazu: „Für die Medizinische Fakultät der Universität Zürich ist die Einheit von Forschung und Lehre ein zentrales Anliegen in der Ausbildung. Die Studienreform soll nicht zu Lasten der gewachsenen wissenschaftlichen Infrastruktur gehen, sondern diese als Ressource nutzen.“ Die Vorgaben des MedBG bedeuten eine enorme Steigerung des Aufwandes für die Fakultät. Gerke: „Allein die Forderung nach Kleingruppen-Unterricht verdreifacht unseren Personalbedarf. Es soll aber vermieden werden, dass Mittel und Zeit für die Patientenversorgung und Forschung darunter leiden werden.“ Hoffnung setzt Zürich in den Einsatz neuer, internetbasierender Lerntechnologien. „Wir glauben, damit einen didaktischen Mehrwert erreichen zu können, weil die Studierenden selbstbestimmt und ihrem individuellen Tempo entsprechend arbeiten können“, erläutert Gerke.

Lernzielkatalog in Vorbereitung

Zentral für die konkrete Umsetzung der Reform in der Humanmedizin ist zudem die Schaffung eines gesamtschweizerischen Lernzielkatalogs. Dieser wurde soeben in einer ersten Fassung abgeschlossen und geht im November an die Schweizerische Interfakultäre Kommission zur Genehmigung. Vinzenz Im Hof, Mitglied der entsprechenden Arbeitsgruppe, erläutert dazu: „Mit über 2o00 Feinzielen werden die Tiefe des Wissens und die neu einzufordernden Fähigkeiten definiert. Erst damit wird die Reform operationell.“

Sehr weit fortgeschritten ist die Reform der universitären Grundausbildung im Bereich Pharmazie. Stephan Krähenbühl, Leiter der Abteilung klinischen Pharmakologie und Toxikologie am Kantonsspital Basel sowie des Instituts für Klinische Pharmazie der Universität Basel, erklärt dazu: „In Kooperation mit der ETH Zürich sind die wesentlichsten Forderungen des MedBG im Bereich Pharmazie schon realisiert oder stehen kurz vor der Realisierung.“ Bereits jetzt beginnen neue Studierende ihre Laufbahn mit dem reformierten Studienplan, der den Einsatz modernster Mittel wie mittels Medien übertragener, „verteilter Vorlesungen“ zwischen Basel und Zürich oder die Freizügigkeit zwischen beiden Hochschulen vorsieht.

Unter Anpassungsdruck steht die Veterinärmedizin. Brigitte Grether, zuständig im Dekanat der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Zürich für die Studienreform, erklärt dies mit einem sich ändernden Berufsbild für Veterinärmediziner: „Das Spektrum des Wandels reicht von der Thematik Herdenbetreuung bei Grosstieren und Lebensmittelkontrolle über Molekularbiologie in der Veterinärmedizin bis hin zum Einsatz neuer bildgebender Verfahren sowie der tierärztliche Betreuung von exotischen Heimtieren, die in den letzten Jahren stark an Popularität gewonnen haben. Die Neuordnung des Curriculums in ein Kern- und Mantelstudium sei demnach ein dringendes Bedürfnis. Grether: „Auch wenn dies für so manchen Studierenden noch ungewohnt ist: Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass jeder Tierarzt alles weiss und für alle veterinärmedizinischen Fragen zuständig sein kann.“ Gemeinsam mit der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Bern wird derzeit ein neues Curriculum ausgearbeitet, das auf die späteren Arbeitsgebiete der künftigen Tierärzte ausgerichtet ist.

Die Zahnmedizin wiederum ist von den laufenden Reformen im Bereich Humanmedizin betroffen. Peter Hotz, Chef der Klinik für Zahnerhaltung der Universität Bern und Mitglied der Studienreformkommission, sieht folgendes Problem: „Heute erhalten die Zahnmedizin-Studenten in Bern eine stark selbstbestimmte und ‚problem-basierende’ Ausbildung in den ersten beiden Jahren. In der nachfolgenden zahnmedizinischen Ausbildung sollten wir den klassischen Frontalunterricht einer Vorlesung ebenfalls durch diese Formen ersetzten – obgleich so mancher Student sich diese Form durchaus wünscht.“ Die Schwierigkeit besteht insbesondere darin, qualifiziertes Personal für die Studentenbetreuung zu finden. Hotz: „Es ist schwierig, gute und erfahrene Tutoren zu finden. Dieser Aspekt wird bei den Reformbemühungen oft vergessen.“ Trotzdem will Bern im Herbst 2002 ein Reformcurriculum auch für Zahnmediziner einführen. Diesbezüglich findet eine Zusammenarbeit mit den anderen zahnmedizinischen Ausbildungsstätten in der Schweiz statt. Das Reformcurriculum wird an den vier Institutionen künftig sehr ähnlich sein.

Neu unter der gesetzlichen Haube des MedBG sind schliesslich die Chiropraktoren. „Damit hat ein über fünfzig Jahre dauernder Kampf endlich seinen Abschluss gefunden“, erklärt dazu Daniel Mühlemann, Präsident der schweizerischen Chiropraktoren-Gesellschaft. Chiropraktoren erhalten ihre Ausbildung nach dem ersten medizinischen Propaedeutikum derzeit in den USA, da in der Schweiz entsprechende Einrichtungen fehlen. Mühlemann: „Wir verhandeln derzeit mit zwei Universitäten, um die vorklinische chiropraktische Ausbildung im Rahmen der Studienreform in einer schweizerischen Universität anbieten zu können. Wenn alles klappt, werden die ersten angehenden Chiropraktoren ab 2003 ihr Studium an einer Schweizer Universitäten beginnen können.“

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