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Neuroinformatik – der biologischen Informationsverarbeitung auf der Spur

Die Prinzipien der Informationsverarbeitung in biologischen Systemen – insbesondere Nervensystemen – verstehen und technisch nutzbar machen: diese beiden Grundziele hat sich die Neuroinformatik gesetzt. Weltweit arbeiten derzeit noch verhältnismässig wenig Forschergruppen in diesem neuen und hochgradig interdisziplinären Gebiet. Einige davon bilden das Zürcher Institut für Neuroinformatik (INI).

Eine faszinierende Fragestellung inspiriert die Forscherinnen und Forscher der Neuroinformatik: Wie können selbst einfache Organismen wie Insekten mit einem kleinen Nervensystem derart gut Informationen ihrer Umwelt aufnehmen und derart verarbeiten, dass sinnvolles Verhalten möglich ist. Ein von Rodney Douglas, dem Vorsteher des INI, gern genanntes Beispiel ist die Biene: Knapp eine Million Nervenzellen reicht offenbar, damit sich dieses Insekt im dreidimensionalen Raum orientieren und bewegen, die für sie relevanten Muster erkennen und mit anderen Bienen kommunizieren kann – und dies mit einem minimalen Aufwand an Ressourcen bezüglich Material- und Energie. Kein menschliches Konstrukt bringt derartiges zustande.

Natürlich ist es ein lang gehegter Traum von Wissenschaftern und Ingenieuren, Leistungen der Natur verstehen und nachbauen zu können. Wer erinnert sich nicht an die berühmten Studien von Leonardo da Vinchi über den Vogelflug und den dadurch inspirierten Flugmaschinen? Bionik nennt sich das Forschungsgebiet, dass Konstruktionen, Verfahren und Evolutionsprinzipien der belebten Natur für die Technik nutzbar machen will. Neuroinformatiker verfolgen solche Ziele jedoch unter einem spezifischen Blickwinkel: Informationsverarbeitung. Sie vollzieht damit auf der Ebene der Neurowissenschaften einen fast schon Paradigmenwechsel zu nennenden Wandel in den Naturwissenschaften: Prozesse – insbesondere in biologischen Systemen – werden dahingehend interpretiert, dass Informationen ausgetauscht und verarbeitet werden. Diese Sichtweise ist beispielsweise zentral für die moderne Molekularbiologie mit ihrem „Leitmolekül“ DNA – dem Träger genetischer Information. In der weltweiten Community der Neurowissenschaftler bilden Neuroinformatiker derzeit aber nur einen kleinen Teil. Rodney Douglas schätzt ihren Anteil auf etwa fünf Prozent (siehe Kasten „Neuroinformatik weltweit“)

Neuronale Netze und neuromorphes Engineering

Wichtige theoretischen Grundlagen für diese neue Sichtweise auf die Natur entstanden erst Mitte des 20. Jahrhunderts, als die Informationstheorie, die Kybernetik, die Computerwissenschaften, die General Systems Theory und andere neue Gebiete entstanden. In diese Zeit fallen auch die ersten Versuche, Informationsverarbeitung in Nervensystemen mittels neuronaler Netze und ihrer Bausteine verstehen zu wollen. Die Forscher Warren McCullock und Walter Pitts entwickelten bereits in den 40er Jahren ein einfaches Modell eines Neuron, das später zu einem „integrate-and-fire“-Modell weiterentwickelt wurde. Ein solches Modell-Neuron „feuert“ (d.h. gibt ein Signal weiter), wenn die Summe der eingehenden Signale einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Der Beitrag der eingehenden Signale an die Summe kann dabei gewichtet werden. Diese „rechnerische Grundeinheit“ eines neuronalen Netzwerkes lässt sich dann zu Netzwerken verschalten. Durch Anpassung der „Gewichte“ der einzelnen Neuronen ändert sich das Verhalten des Netzwerkes. Dadurch kann es beispielsweise lernen, Muster zu erkennen.

Zwei Zugangsweisen stehen bei solchen neuronalen Netzen im Vordergrund: So wird die Informationsverarbeitung unabhängig von der Hardware-Implementierung des Netzwerkes untersucht. Diese simulierten neuronalen Netze wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgiebig erforscht. Solche Simulationen sind aber eher langsam und ressourcen-intensiv – entsprechen diesbezüglich also nicht ihren biologischen Vorbildern.

Unter dem Stichwort „neuromorphic engineering“ wird deshalb die Frage untersucht, wie sich spezifisch biologischen Eigenschaften neuronaler Netze in silico reproduzieren lassen. Ein Produkt, das basierend auf diesem Ansatz entwickelt wurde, ist die „silicon retina“. Dieser mit optischen Sensoren ausgerüstete Chip wurde ursprünglich Ende der 80er Jahre am Caltech entwickelt und von anderen Instituten – darunter auch dem INI – verbessert. Dieses Photo-Sensor-Gitter ist derart verschaltet, dass rezeptive Felder ähnlich wie im biologischen Vorbild entstehen. Die „silicon retina“ kann dadurch beispielsweise in einem sehr breiten Spektrum von Lichtintensität Kanten von Objekten erkennen, womit klassische Videokameras Mühe haben.

Entstehung der Neuroinformatik

Die Untersuchung solcher neuronaler Netze ist sicher eine der Wurzeln der Neuroinformatik. In der heutigen Form entwickelte sich dieses Gebiet aber erst in den 80er Jahren. In diese „Gründerzeit“ fallen beispielsweise die im Jahr 1982 gehaltene Vorlesung „Physics of Computation“ von Richard Feynman, John J. Hopfield und Carver Mead am Caltech, das Carmel-Symposium „computational Neuroscience“ im Jahr 1987 oder auch die Gründung des Instituts für Neuroinformatik an der Ruhr-Universität in Bochum, um eine europäischen Beitrag zu nennen. Anstelle des Begriffs „Neuroinformatik“ wird übrigens in den angelsächsischen Ländern der Begriff „computational neurobiology“ gebraucht.

In Zürich iniitierten der damalige Direktor des Instituts für Hirnforschung, Michel Cŭénod, und der Physiker Klaus Hepp 1990 die Arbeitsgruppe Neuroinformatik. Zudem wurden regelmässig Kolloquien und Vorlesungen zum Thema durchgeführt, was den Prozess in Gang setzte, der 1995 zur Gründung des Instituts für Neuroinformatik führte. Heute sind insgesamt über 50 Personen (Professoren, Oberassistenten, Post-Docs und Doktoranden) am INI vertreten. Das disziplinäre Spektrum ist ausserordentlich vielfältig. Nebst Fachleuten aus den Gebieten Mathematik, Physik, Informatik, Robotik und Hardware sind solche aus Biologie, Medizin und Psychologie am Institut vertreten.

Ein wichtiges methodisches Charakteristika der Neuroinformatik ist denn auch der „Top-down-Ansatz“: Im Zentrum stehen nicht nur die molekularen Vorgänge auf der Ebene der einzelnen Neuronen, sondern das Zusammenwirken der Nervenzellen mit dem Ziel, bestimmte, für den jeweiligen Organismus relevante Leistungen zu erbringen. So interessieren sich Neuroinformatiker etwa für das visuelle System von Insekten mit dem Ziel, letztlich einfache technische Systeme mit vergleichbaren Leistungen herstellen zu können. Bedeutsam ist auch die Frage, ob es einen „neuralen Code“ gibt, mit welchem Nervenzellen kommunizieren und wie dieser Code charakterisiert ist. Auch derartige Untersuchungen sind von der Vorstellung motiviert, neue Prinzipien der Informationsverarbeitung finden zu können, die technisch reproduziert werden können.

Mit der Systemperspektive sind schliesslich auch einige fundamentale wissenschaftstheoretische Fragestellungen verbunden, welche von den heutigen Wissenschaften aufgeworfen worden sind: Selbstreferenzielle Strukturen, Emergenzphänomene und die Rolle der Semantik in biologischen Systemen können als Beispiele genannt werden.

Die am INI derzeit bearbeiteten Forschungsgebiete (siehe Kasten „Neuroinformatik – was geforscht wird“) geben einen Überblick über einige der derzeit in der Neuroinformatik relevanten Fragestellungen. Nicht direkt am INI behandelt werden neue Formen der Neuroprothetik, welche auch zum Gebiet der Neuroinformatik gezählt werden können. Zum einen geht es hier um den künstlichen Ersatz sensorischer Systeme. Ein Beispiel sind „Retina-Chips“, welche zerstörte natürliche Netzhaut ersetzen sollen. Zum anderen geht es um die Entwicklung von Interfaces für die Steuerung mechanischer Prothesen. Manche Forscher spekulieren zudem bereits über neuartige Machine-Brain-Interfaces zur Steuerung komplexer technischer Systeme. Die Weiterentwicklung der Neuroinformatik dürfte auch ethische und soziale Fragen stellen, die teilweise in den Bereich der klassischen Bioethik fallen , teilweise aber auch darüber hinaus gehen und mit den Instrumenten der Technikfolgenabschätzung behandelt werden könnten.

Anwendungen und Zukunft der Neuroinformatik

Die weitere Entwicklung der Neuroinformatik wird aber auch von der Bewältigung dreier Herausforderungen abhängen, wie an einem Bericht für das OECD Megascience Forum festgehalten wurde: Es gilt erstens, die sehr verschiedenen Disziplinen und die damit verbundenen unterschiedlichen Ebenen der Forschung zusammenzuführen, um eine gemeinsame theoretische Basis entwickeln zu können. Dazu müssen zweitens gemeinsam akzeptierte Methoden und eine „gemeinsame Sprache“ für die Neuroinformatik entwickelt werden. Drittens müssen die sehr unterschiedlichen Wissensbasen vereinheitlicht werden. Dies ist übrigens ein generelles Problem der modernen Hirnforschung.

Welche praktischen Anwendungen aus der Neuroinformatik künftig erwachsen werden, lässt sich derzeit nur schwer konkret prognostizieren. Unbestritten sind die vielfältigen Anwendungen neuronaler Netze – beispielsweise im Bereich der Mustererkennung. Auf der Hardware-Seite hingegen sind noch kaum Anwendungen auf dem Markt. Das bekannteste Beispiel ist die Logitech-Maus, welche mit einem optischen Sensor anstelle eines Trackballs den Mauszeiger auf dem Bildschirm steuert. Heute sind die Forscherinnen und Forscher aber zuversichtlicher, auch in diesem Bereich bald Erfolge vorweisen zu können. Am INI selbst werden eine Reihe von Projekten mit Anwendungspotenzial verfolgt (siehe Kasten „Anwendungen der Neuroinformatik“).

Ein wichtiges Ziel der Neuroinformatik ist es, einen signifikanten Beitrag zur Entwicklung „intelligenter Technologien“ zu leisten. „Intelligent“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die technischen Entitäten bis zu einem gewissen Grad autonom agieren können, aktiv von der Umwelt Informationen aufnehmen, verarbeiten und basierend darauf aktiv in die Umwelt eingreifen können und gewisse Formen von Lernen und Anpassung zeigen. Technologische Möglichkeiten wie auch daraus erwachsende Konsequenzen für die Gesellschaft werden derzeit im Kontext des „ubiquitous bzw. pervasive computing“ diskutiert.

Von einer generellen wirtschaftlichen Perspektive aus gesehen, dürfte Hirnforschung als Inspiration für Technik demnach an Stellenwert gewinnen. Diese Schlussfolgerung lässt sich schliesslich aus den OECD-Prognosen zum Wachstum der Märkte in den Bereichen „Neurogesundheit“ und Informationstechnologie ziehen. Für erstere wird weltweit ein lineares Wachstum prognostiziert, letztere Märkte wachsen exponentiell. Damit besteht eine Nachfrage nach neuen Ansätzen in der Informationstechnologie, welche auch von der Neuroinformatik geliefert werden.


Neuroinformatik – was geforscht wird

Am Institut für Neuroinformatik werden derzeit um die dreissig Projekte bearbeitet, welche sich in folgende Fragestellungen gruppieren lassen:

  • Neural computation: Mittels anatomischer und (elektro-)physiologischer Methoden wird die Biophysik und Konnektivität von Nervenzellen untersucht, um Hinweise auf die Informationsverarbeitung in Nervenzellen zu erhalten. Unter anderem geschieht dies durch Forschung am visuellen System von Katzen.

  • Analyse und Implementierung kortikaler Schaltkreise: Basierend auf der Untersuchung der Mikrostruktur der Nervenzellen-Verbindungen im Kortex werden „in silico“-Modelle solcher kortikaler Schaltkreise entwickelt (analoge VLSI) und untersucht.

  • Prinzipien biologischer Informationsverarbeitung: Mittels biologienaher Computermodelle werden spezifische Eigenschaften biologischer Informationsverarbeitung (Kodierung, Lernen, Mustererkennung etc.) untersucht.

  • Neuromorphe Systeme: Unter Einbezug biologischer Erkenntnisse und aufgrund Modellierung gewonnener theoretischer Einsichten sollen elektronische Schaltkreise entwickelt werden, welche Einsatz in der Verarbeitung sensorischer Information, Robotik und anderer Anwendungen der Informationstechnologie (Speichermedien) finden sollen.


Anwendungen der Neuroinformatik

Mehrere Projekte am INI verfolgte Projekte besitzen Anwendungspotenzial. Diese lassen sich summarisch wie folgt gliedern:

  • Sensorik: Biologisch inspirierte Sensorik gilt als ein bedeutender Zukunftsmarkt. Am INI werden derzeit diverse Bewegungs- und Lokalisationssensoren entwickelt, welche beispielsweise für „intelligente Häuser“ Anwendung finden können. Mit dem „Physiologist’s friend“, ein Modell des visuellen Systems, wurde ein Hilfsmittel für Lehre und Forschung entwickelt.

  • Data-processing/-handling: Biologische Systeme zeichnen sich durch effizienten Umgang mit komplexen Daten aus. Untersucht werden in diesem Zusammenhang Noise-Cleaning-Algorithmen, Informationsverlust im Hörsystem (KTI-Projekt mit Phonak), Clustering pharmakologisch relevanter Daten (KTI-Projekt mit Novartis) und die Möglichkeiten des phase-locked computings.

  • Ada – The Intelligent Space: Mit dem Projekt Ada ist das INI an der Expo.02 vertreten. Der mit den Besuchern der Expo kommunizierende „intelligente Raum“ soll auf spielerische Weise die Öffentlichkeit über die Möglichkeiten intelligenter Häuser aufmerksam machen.


Neuroinformatik weltweit

An folgenden Institutionen befinden sich Forschergruppen, welche zum „engeren Kreis“ der weltweiten Neuroinformatik-Community gezählt werden können:

  • Caltech (u.a. Carver Mead und Christof Koch)
  • Salk-Institut/UCSD (u.a. Terrence Sejnowski)
  • University of Maryland (u.a. Shihab Shamma)
  • Hebrew University (u.a. Idan Segev)
  • Riken Institut (u.a. Shun-ichi Amari)
  • Institut für Neuroinformatik Bochum (u.a. Christoph von der Marlsburg)
  • University College London (u.a. Geoff Hinton)
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