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Von der Freiheit, sich zu schaden

Freiheitsrechte bilden einen zentralen Bestandteil der westlichen Staatsauffassung. Demnach gibt es einen Bereich des Privaten, wo nicht die Verfügungsgewalt des Staates, sondern die Selbstverantwortung des Individuums dem Handeln des Menschen Schranken auferlegen soll. In rechtlicher Hinsicht hat das Individuum hierbei auch die Freiheit, sich zu schaden. Ein solches „Recht auf Selbstschädigung“ bietet aber in begrifflicher wie praktischer Hinsicht einige Stolpersteine, die gesundheitspolitisch relevant sind. Aktuelle Diskussionen betreffen den Umgang mit legalen und illegalen Drogen, Doping im Sport und die rechtliche Basis für staatliche Präventionskampagnen. „Thema im Fokus“ reflektiert nachfolgend die vielen Facetten des „Rechts auf Selbstschädigung“.

Seit Mitte Dezember 2005 hat das „Recht auf Selbstschädigung“in der Schweiz eine – je nach Standpunkt – empfindliche Einschränkung erfahren: Raucherinnen und Raucher dürfen ihrem Laster in den Zügen nicht mehr frönen. Dies ist das jüngste Beispiel eines Sieges in der Schlacht für eine rauchfreie Gesellschaft, welche interessanterweise vorab in den liberalen westlichen Demokratien wütet und für so manche grundsätzliche Fragen stellt: Welche Freiheitsrechte sind höher zu werten: Das Recht der Raucher, sich anerkanntermassen gesundheitsschädlich verhalten zu dürfen? Oder das Recht der Nichtraucher, vor den Emissionen dieses Verhaltens geschützt zu werden? Ist eine solche Diskussion hinsichtlich Freiheitsrecht beim Rauchen überhaupt angebracht, angesichts der unbestrittenen medizinischen Evidenz, dass Rauchen tödliche Krankheiten wie Lungenkrebs und Herzinfarkt auszulösen vermag? Auch beim Konsum illegaler Drogen taucht dieses Problem auf: Hier verweisen Expertinnen und Experten regelmässig darauf, dass die Bundesverfassung ein Recht auf Selbstschädigung mit einschliesse und dass deshalb der Verbot des Konsums solcher Substanzen nicht haltbar sei. Doch was heisst „Recht auf Selbstschädigung“? Was ist überhaupt „Selbstschädigung“ bzw. das „Selbst“ und dessen „Schädigung“ in diesem Kontext? Ist dies nicht ein paradoxer Begriff – denn gerade bei einer Selbstschädigung kann ja nur die Person selbst beurteilen, ob dies überhaupt eine „Schädigung“ ist? So kann also jemand von aussen eine „Selbstschädigung“ bei einer Person diagnostizieren, was die betroffene Person aber partout nicht als „Schädigung“ sehen will. Oder aber die Person ist sich der Ambivalenz des Verhaltens durchaus bewusst. Raucher beispielsweise wissen zuweilen sehr gut, dass ihr Tabakkonsum nicht gerade gesundheitsförderlich ist – und doch sehen sie auch positive Aspekte im Rauchen, das Innehalten im Fluss des Alltags, die „Rauchpause“. „Selbstschädigung“ ist damit eine Nebenfolge einer Abwägung.

Zur Paradoxie der Selbstschädigung

Bereits diese ersten Überlegungen machen deutlich, dass dem Begriff der „Selbstschädigung“ in mehrfacher Hinsicht etwas Paradoxes anhaftet. Erstens fallen – im Gegensatz zur Fremdschädigung – die Parteien des Schädigers und des Geschädigten zusammen. Das vorab im Strafrecht entwickelte System zum Umgang mit Fremdschädigung kann also – selbst wenn man wollte – nicht so einfach zur Beurteilung einer Selbstschädigung übertragen werden. Zweitens ist unklar, worin genau der „Schaden“ besteht und wer befugt ist, diesen überhaupt als solchen bezeichnen zu dürfen. Kann nur das „Selbst“ sagen, worin der Schaden bei einer Selbstschädigung besteht – oder haben auch die Bezugspersonen des betroffenen Selbst oder gar die gesellschaftliche Perspektive eine Stimme? Drittens gibt es offensichtlich unterschiedliche Grade der Selbstschädigung, die wiederum in einer Beziehung zur Konstitution des „Selbst“ stehen: Auf der einen Seite des Spektrums stehen beispielsweise riskante Freizeitbetätigungen bis hin zu Hochrisikosportarten wie Base Jumping oder masochistische Sexualpraktiken, welche eng an das positiv empfundene Lebensgefühl einer Person gekoppelt sind. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen klar pathologische Formen der Selbstschädigung mit Selbstverletzung bis hin zu Suizid als extremste Form von Selbstschädigung. Irgendwo in der Mitte sind Formen von Selbstschädigung wie Drogenkonsum, Rauchen oder auch übermässiges Essen (Fettsucht), die beim Betroffenen sowohl mit positiven wie negativen Empfindungen einhergehen, von der äusseren (gesellschaftlichen Perspektive) aber klar negativ bilanziert werden. Hier drückt sich eine Ambivalenz des Selbst aus, wenn es darum geht den Grad der „Schädigung“ bzw. deren Abwägung mit anderen Lebensgütern bestimmen zu können. Viertens schliesslich stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Verantwortung des Einzelnen gegenüber einer Gemeinschaft wie auch gegenüber sich selbst. Selbstschädigung beeinträchtigt schliesslich die Möglichkeiten der Gemeinschaft (beispielsweise hinsichtlich der finanziellen Ressourcen, die durch Raucherkrankheiten verbraucht werden) wie auch die Möglichkeit des Individuums selbst (so beeinträchtigt beispielsweise übermässiges Essen die körperliche Verfassung des Betroffenen). Der Ruf nach verantwortlichem Verhalten kann aber durchaus den gegenteiligen Effekt haben, wenn Selbstschädigung vom Betroffenen als etwas empfunden wird, mit dem er oder sie bewusst gegen die Norm verstösst. Der Appell zur Verantwortung ist dann nichts anderes als die Bestätigung, sich „erfolgreich“ gegen die Norm zu stemmen.

Diese paradoxen Aspekte des Begriffs „Selbstschädigung“ mögen dazu beitragen, dass all die genannten Formen von Selbstschädigung in rechtlicher Hinsicht in unserem Kulturraum nicht verboten sind – also auch Selbstmord nicht. Dies ist Ausdruck der liberalen Ausrichtung unseres Rechtsverständnisses. Mit dem „Habeas Corpus Act“ – „du mögest den Körper haben“ – wurde 1679 in England ein zentrales Element der liberalen Demokratie geprägt, das Verfügungsrecht über den eigenen Körper. Ursprung dieses Gesetzes war der Schutz vor willkürlichen Verhaftungen. Doch im Zug der Aufklärung wurde es ein Kernpunkt einer liberalen Staatsauffassung, welche dem Staat Grenzen hinsichtlich seiner Verfügungsgewalt über die Handlungen von Individuen gibt. Dass es so etwas wie ein „Recht auf Selbstschädigung“ überhaupt geben kann ist damit Ausdruck der Grundidee, dass Individuen Dinge tun dürfen, die man zwar missbilligen kann, nicht aber rechtlich verfolgen sollte. Diese Handlungen fallen in den Bereich der Selbstverantwortung. Diese Grundidee findet vielerlei Ausprägungen – etwa im Gedanken des englischen Philosophen John Stuart Mill, wonach die Freiheit des Einzelnen ihre Grenzen nur dort findet, wo sie die Freiheit des Anderen tangiert. Sobald es demnach um den Rechtscharakter von „Selbstschädigung“ geht, befinden wir uns also in einem Theoriegebäude, aus dem zentrale Werte unserer Gesellschaft wie auch unseres Verständnis von Medizinethik – Stichwort Patientenautonomie – erwachsen. Dies wird ein wichtiger Grund sein, warum beispielsweise die Bundesverfassung nirgendwo ein Recht auf Selbstschädigung ausschliesst. Auch in Deutschland wird die Sachlage so gesehen. Beispielsweise meint Dirk Fabricius, Professor für Strafrecht, Kriminologie und Rechtspsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M., „dass nach dem vom Individuum ausgehenden und auf der individuellen Persönlichkeit gründenden Grundgesetz die verantwortliche Selbstschädigung nicht strafbar gemacht werden darf.“

Gemäss dem Strafrechtler und Rechtsphilosoph Marcel Niggli (Universität Fribourg) ergibt sich das Recht auf Selbstschädigung indirekt, aber zwingend aus Art. 7 der Bundesverfassung: aus der dort geschützten Menschenwürde folgt das Recht auf Selbstbestimmung des Menschen. Für Niggli ist damit das Recht auf Selbstschädigung nicht nur ein sinnvolles, sondern ein unabdingbares rechtliches Konzept. Es drückt letztlich auch die Tatsache aus, dass eine liberale Gesellschaft kein einheitliches und allgemeingültiges Menschenbild formulieren könne, dass eindeutig zwischen schädigendem und nichtschädigendem Verhalten zu unterscheiden vermag. Das Gesetz könne zwar nicht das Recht auf Selbstschädigung selbst einschränken, wohl aber dann mit Verboten eingreifen, wenn die Rechte anderer tangiert würden. Gemäss Niggli müsse man hier aber bedenken, dass auch die gesellschaftliche Bewertung von selbstschädigendem Verhalten nicht auf objektiven Kriterien beruhe, sondern konstruiert sei. Wolle man beispielsweise Gesundheit und Langlebigkeit als Grundwert fixieren, ergäbe sich daraus beispielsweise direkt die Pflicht, Übergewicht zu bekämpfen und körperliche Tätigkeit obligatorisch zu machen – fraglich sei hier natürlich aber, ob ein langes Leben besser sei als ein kurzes. Für Niggli gehört das Recht auf Selbstschädigung letztlich in den Komplex jener Toleranzgebote, welche in einer liberalen Gesellschaft Diversität ermöglichen und auch schützen – auch wenn damit Verhaltensweisen möglich werden, die einer Mehrheit eher zuwider sind. Die Alternative einer „perfekten“ Gesellschaft, in der niemand leiden müsse, in der alle gesund und fröhlich seien und uralt würden, dieser Zustand aber mittels diktatorischer Mittel erreicht werden müsse, sei abzulehnen.

Das Selbst und seine Eingebundenheit

Mit einem „Recht auf Selbstschädigung“ sind natürlich die damit verbundenen praktischen Probleme nicht aus der Welt geschafft. Dies weiss beispielsweise jeder Angehörige eines Drogen konsumierenden Menschen. Ein sich schädigendes Selbst ist eingebunden in Beziehungen mit anderen Menschen und Selbstschädigung hat Auswirkungen auf dieses Beziehungsnetz. Allein diese Beobachtung reicht natürlich aber nicht für eine generelle moralische Disqualifikation von Selbstschädigung. So gibt es ethisch hoch geachtete Formen von Selbstschädigung, wie beispielsweise die Lebendorganspende. Andere Formen von Selbst-“schädigung“ fallen deutlich in den Bereich der individuellen Lebensgestaltung: Eltern eines homosexuellen Jugendlichen mögen dessen Form von Sexualität als „selbstschädigend“ ansehen, doch der gesellschaftliche Konsens verbietet hier Eingriffe zwecks „Verhinderung“ der Homosexualität. Bei drogensüchtigen Jugendlichen wiederum ist der Konsens derart, dass Eingriffe zwecks Verhinderung der Selbstschädigung nicht nur legitim, sondern gar geboten sind. Ist die betroffene Person hingegen volljährig, so vermindert sich die Interventionsmöglichkeit des Beziehungsumfeldes. (Von anderen so empfundene) Selbstschädigung wirkt sich dann meist so aus, dass sich das Beziehungsnetz der betroffenen Person ändert.

Dieses Problem der Eingebundenheit des Selbst in ein Beziehungsnetz wird zusätzlich kompliziert, wenn die gesellschaftliche Perspektive berücksichtigt wird. Hier gelangen wir in das Feld der heutigen Diskussionen über den Missbrauch von Substanzen wie Suchtmitteln, Medikamenten und Doping (zu letzterem vgl. die Ausführungen von Matthias Kamber im Kommentar). In einer Reihe von Studien hat das Bundesamt für Gesundheit das Ausmass des Problems dokumentiert (BAG, 2005). So raucht derzeit ein Drittel aller jungen Erwachsenen in der Schweiz. Fast 30 Prozent aller 15-Jährigen war mindestens einmal im Leben betrunken und über ein Drittel konsumierte in den letzten 12 Monaten Cannabis. Eine Schätzung der Kosten (Behandlungskosten alkoholbedingter Krankheiten, Erwerbsausfall etc.) allein des Alkoholmissbrauchs für das Jahr 1998 kommt auf einen Betrag von 2.6 Milliarden Franken. Der Einbezug des Rauchens und des Missbrauchs anderer Substanzen dürfte diesen Betrag markant erhöhen. Gewiss haben solche Schätzungen angesichts der vielen Faktoren, welche letztlich zum Ausbruch von Krankheiten führen, immer eine gewisse Unsicherheit – umso mehr wenn so genannte „indirekte Kosten“ mit einbezogen werden. Unbestritten ist aber, dass „Selbstschädigung“ auf der gesellschaftlichen Ebene enorme Kosten verursachen kann.

Die Debatte, bis zu welchem Ausmass diese Kosten akzeptiert werden wollen, ist legitim und findet ihren Ausdruck in der Stärkung des Präventionsgedankens. Im Rahmen des Forschungskonzeptes „Gesundheit 2004-2007“ hat das Bundesamt für Gesundheit bereits seit einiger Zeit deutlich gemacht, dass ein Schwerpunkt auf Prävention gelegt werden soll. Die derzeit laufenden Anti-Tabak- und Anti-Alkohol-Kampagnen sind Ausdruck dieser Bemühungen. Mit forcierten Präventionskampagnen aber erreicht das Problem der Selbstschädigung wieder die rechtliche Ebene und die damit verbundene Frage nach dem Ausmass von Verboten. Wo sollen Alkohol und Tabak noch konsumiert werden dürfen und wer darf überhaupt noch solche Substanzen kaufen? Markus Jann, Leiter der Sektion Drogen im Bundesamt für Gesundheit (BAG) erklärt dazu auf Anfrage: „Eine reine Selbstschädigung gibt es nicht, sie hat immer auch Auswirkungen auf das Gemeinwesen.“ Ein Auftrag des BAG bestehe darin Problemfelder für die öffentliche Gesundheit zu identifizieren und im Sinn einer Prioritätenliste in den politischen Prozess einzubringen. Gewisse Verbote können dann durchaus als Ergebnis der politischen Entscheidungsprozesses resultieren. Hier könnten künftig neue Widersprüche aufgeworfen werden – zumal man ja gerade bei den illegalen Drogen unter Fachleuten zunehmend den Konsens erreicht hat, dass ein Verbot gewisser Substanzen das Problem nicht löst.

Dieses Problem macht einmal mehr deutlich, dass das Problem der Selbstschädigung nicht auf einer rechtlichen Ebene gelöst werden kann. Die vielfältigen, zuweilen paradoxen Facetten dieses Begriffs müssen vielmehr vom Problem der Beziehungen des sich schädigenden Selbst angegangen werden. Das Eingebundensein des Selbst in dieses Netz von Beziehungen macht die Schwierigkeit deutlich, dem Konzept der Selbstschädigung ein allgemein gültiges Profil zu geben. Die psychologische Forschung zeigt dabei auch, dass gewisse Formen von Selbstschädigung paradoxerweise eine wichtige Funktion für die Aufrechterhaltung und den Schutz einer Person haben kann (Mummendey, 2000). Gemeint ist damit unter anderem, dass sich ein Individuum im Akt der „Schädigung“ oft erst als solches erleben und von anderen abgrenzen kann. Gewisse Formen der Selbstschädigung markieren damit Schritte in der Entwicklung einer Persönlichkeit. Zuweilen müssen wir uns offenbar schädigen, um nicht nur die Grenzen unseres Selbst, sondern auch unser Eingebundensein in Beziehungen zu erfahren. Insofern nützt uns die Freiheit, uns zu schaden, indem dadurch die Grenzen dieser Freiheit deutlich werden.

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