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NFS „Molecular Life Sciences“: Strukturbiologen – die Goldsucher des 21. Jahrhunderts

Sie markieren die Forschungsfront des Post-Genom-Zeitalters: Der nationale Forschungsschwerpunkt (NFS) „Molecular Life Sciences“ will sich den schwierigsten Problemen der Strukturbiologie widmen.

Strukturbiologen tun, wovon jeder spricht in den Zeiten des entzifferten menschlichen Erbguts. Sie arbeiten am Post-Genom-Zeitalter, in welchem der Sinn der genetischen Information ergründet werden soll, der bisher nicht verstanden ist. Sie betonen deshalb, dass von einer "Entschlüsselung" des Genoms bisher nicht die Rede sein kann. Gene sind bekanntlich die Bauanleitung für Proteine. Diese wiederum können ihre Funktion im Organismus nur dann erfüllen, wenn sie eine ganz bestimmte Struktur haben. Form und Funktion bedingen einander, das Wissen über das Eine ist unabdingbar zum Verständnis des Anderen.

Das Verständnis der Strukturbildung – die sogenannte Faltung von Proteinen – und die Analyse der Interaktion der verschiedenen molekularen Formen ist das Themengebiet der Strukturbiologie. Praktisch alle Zielmoleküle, an die Medikamente binden, sind Proteine. Deshalb ist deren genaue Architektur auch von enormer medizinischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Ein besonders aktuelles Beispiel ist die Untersuchung von Prionen, den mutmasslichen Verursachern von BSE und der Creutzfeld-Jakob-Krankheit. Eine Formveränderung dieser kleinen Eiweisspartikel macht sie gefährlich und verwandelt gesundes Hirngewebe in einen löchrigen Schwamm.

Es erstaunt deshalb kaum, dass das NFS-Projekt „Molecular Life Sciences“ unter der Leitung von Markus Grütter, Professor für Biochemie an der Universität Zürich, im Dezember des vergangenen Jahres zum Zug gekommen ist. Damals wurde das Projekt zu einem der zehn nationalen Forschungsschwerpunkte erkoren. Er vereinigt insgesamt neun Schweizer Forschergruppen (acht aus Zürich, eine aus Basel) mit insgesamt gegen 150 Forscherinnen und Forschern. International – so in Japan, Deutschland und in den USA – sind derzeit grosse Anstrengungen im Gang, Kooperationen und Institutionen für das Post-Genom-Zeitalter aufzubauen. „Für die Schweiz sind diese Aktivitäten eine Nummer zu gross“, meint Markus Grütter, denn die Institute strebten die Proteinanalyse am Fliessband an. "Es stellt sich aber die Frage, ob die so gewonnen Informationen wirklich die wichtigsten sind", fügt er hinzu.

Die hoch hängenden Früchte ernten

„Sein“ Forschungsschwerpunkt will sich deshalb einer besonders grossen Herausforderung widmen, der Strukturbestimmung der Membranproteine und der sogenannten supramolekularen Komplexe. Diese gelten als die schwierigsten, aber auch interessantesten Fälle. Membranproteine sind die Verbindungen der Zelle zur Aussenwelt, hier docken Signalstoffe und Medikamente an. Supramolekulare Komplexe wiederum sind Strukturen, in welchen sich verschiedene Proteine zu funktionalen Einheiten – quasi zu molekularen Maschinen – zusammentun. Ein Beispiel sind die sogenannten Ribosomen, jene Orte in der Zelle, wo die genetische Information zur Produktion von Eiweissen verwendet wird.

Brennend an der Struktur solcher Membranproteine ist beispielsweise die Pharmaindustrie interessiert: Versteht man diese Proteine, hat man den Schlüssel für hochselektiv wirkende Medikamente in der Hand. Sogenannt „strukturbasiertes Wirkstoffdesign“ wird möglich, also die passgenaue Entwicklung von Heilmitteln. „Deshalb ist es auch so schwierig, in diesem Bereich internationale Kooperationen aufzubauen. Wer die Membranproteine versteht, dem stehen ungeahnte Möglichkeiten offen. Es ist wie Gold suchen“, meint Grütter dazu. Der Forschungsschwerpunkt soll dazu beitragen, dass in der Schweiz die kritische Masse zur Untersuchung dieser Proteine zusammen kommt.

Derzeit verhindern grundlegende technische Probleme Fortschritte in diesem Gebiet: Die Herstellung von grösseren Mengen von Membranproteinen ist sehr schwierig, die Techniken zur Strukturanalyse sind sehr zeitaufwendig und Methoden zur Voraussage der Proteinfaltung und –struktur fehlen fast völlig. „Es ist sehr schwer zu prognostizieren, welche Resultate wir nach Ablauf der zehn Jahre des Bestehens unseres Forschungsschwerpunktes wirklich vorweisen können“, mahnt Grütter.

Entsprechend den offenen Fragen gruppiert sich der Forschungsschwerpunkt in drei Themenbereiche: Zwei Zürcher Gruppen – je eine der von Universität (Andreas Plückthun) und der ETH (Rudi Glockshuber) – arbeiten im Bereich der Biochemie von Proteinen und widmen sich insbesondere neuen Ansätzen zur Herstellung und Reinigung der Eiweisse. Fünf Gruppen (eine von der Universität Zürich (Markus Grütter), zwei von der ETH (Kurt Wüthrich und Tim Richmond), eine von der Universität Basel (Andreas Engel) und eine vom Paul Scherrer Institut (Fritz Winkler)) widmen sich der eigentlichen Strukturanalyse. Zwei weitere Gruppen (Universität Zürich (Amedeo Cafisch) und ETH Zürich (Wilfred van Gunsteren)) entwickeln Methoden zur computergestützten Modellierung der Faltung und Interaktion von Proteinen.

Infrastruktur optimieren

„Ein zentraler Aspekt unseres Schwerpunktes ist es, die bereits jetzt hochstehende technische Infrastruktur koordiniert zu nutzen und ihre Effektivität zu verbessern“, erklärt Grütter. Strukturbestimmung erfordert hochkomplizierte und teure Geräte. Konkret spricht er die NMR-Methode an, die an der ETH durch die Gruppe von Kurt Wüthrich eingerichtet wurde. Hier werden die Atomkerne der Eiweissmoleküle mit gewaltigen Magnetfeldern angeregt. Durch Resonanzphänomene verraten diese dann Informationen über ihre jeweiligen Nachbarn. Daraus lässt sich die Architektur des ganzen Eiweisses rekonstruieren. Diese Methode fand kürzlich internationale Beachtung bei der Strukturbestimmung des für die Entstehung von Rinderwahnsinn wichtigen Prionproteins.

Eine andere Grossinvestition war die neue Swiss Light Source am Paul Scherrer Institut, mit der sich seit neustem sehr kleine Kristalle der Eiweisse mit einem intensiven Strahl von Röntgenlicht analysieren lassen, wodurch dann wiederum die Architektur der Eiweisse entschlüsselt werden kann, das Spezialgebiet von Markus Grütter. Auch die Elektronenmikroskopie der Universität Basel (siehe Kasten) ist eine grosse Investition. Diese bereits bestehende Infrastruktur soll im Rahmen dieses Programms von den Partnern auf höchstem Niveau genutzt werden, aber auch weiteren Forschergruppen zugute kommen.

Grosse Bedeutung soll schliesslich die Ausbildung von Doktoranden und Post-Doktoranden in Strukturbiologie und Bioinformatik im neuen Schwerpunkt erhalten. In einem entsprechenden nationalen Kursprogramm sollen 30 bis 40 Doktoranden jährlich ausgebildet werden.

Die Kontakte zur Industrie hingegen sind erst am Entstehen: Der Direktor des Schwerpunkts, Markus Grütter, und sein Kollege Fritz Winkler haben mehrere Jahre für Novartis bzw. Roche gearbeitet und Andreas Plückthun ist Mitgründer der Biotech-Firma Morphosys. Ein gutes Kontaktnetz ist demnach vorhanden, doch unterschriebene Verträge für eine Industriekooperation innerhalb des Schwerpunktes fehlen bisher. „Das Interesse ist gross, doch wir stehen noch am Anfang der Gespräche und möchten natürlich für beide Seite attraktive Bedingungen erzielen“, meint Grütter dazu. Der neue Forschungsschwerpunkt soll deshalb auch dazu beitragen, die Investitionsströme der Schweizer Pharmaindustrie, die jetzt vielfach nach Kalifornien fliessen, zurück in die Schweiz zu lenken.


Der Basler Blick für’s ganz Kleine

Das Basler M.E, Müller Institut, angesiedelt am Biozentrum, ist Teil des Netzwerkes des Forschungsschwerpunktes „Molecular Life Science“ und arbeitet im Schwergebiet Strukturanalyse. Dies, weil die Gruppe um Andreas Engel ein hervorragendes technisches Know-How zur Nutzung der Elektronenmikroskopie hat. „Engels Gruppe gehört zu den besten der Welt“, meint Markus Grütter. Für die Membranproteine ist die Elektronenmikroskopie eine immer wichtigere und unverzichtbarere Methode, mit welcher sich Strukturen im Nanometerbereich auflösen lassen.

Zudem sind die Basler Forscher Fachleute in der Herstellung zweidimensionaler Kristalle von Membranproteinen. Die Kristallisation dieser Proteine, also deren Einbindung in eine geordnete Struktur, ist ein sehr wichtiges Hilfsmittel der Strukturbiologen. Dadurch werden die Proteine beispielsweise einer Analyse mit Röntgenstrahlen zugänglich, mit deren Hilfe die Atome, welche das Protein bilden, im Raum lokalisiert werden können. Die Kristallisation von Membranproteinen ist aufgrund ihrer sehr komplexen Struktur enorm schwierig. Es hat sich aber gezeigt, dass die „zweidimensionale Kristallisation“ (also die Anordnung der Proteine auf einer Fläche) für Membranproteine angemessen ist, weil diese in der lebenden Zelle ebenfalls flächig angeordnet sind – nämlich auf der „Haut“ (Membran) der Zelle.

Alle Gruppen werden etwa gleichmässig unterstützt, d.h. die Gruppe Engel erhält dieselbe finanzielle Unterstützung aus den NFS-Geldern wie die anderen. Die Zürcher Gruppen haben jedoch zusätzliche Eigenmittel ihrer Institutionen locker machen können. Die Universität Basel gibt bisher noch keine Unterstützung an diesen Schwerpunkt, wurde aber auch noch nicht dazu aufgefordert.

Das M.E. Müller Institut besteht seit 1986 und wird durch die gleichnamige Stiftung finanziell unterstützt. Derzeit sind zwei Forschergruppen mit total gut 30 Wissenschaftlern am Institut beschäftigt.


Markus Grütter: Leiter des Schwerpunktes „Molecular Life Sciences“ ist Markus Grütter, seit 1997 Professor am Institut für Biochemie der Universität Zürich. Er studierte Chemie an der Universität Basel und doktorierte 1976 in Biophysik am Basler Biozentrum. Er habilitierte in den USA. Von 1983 bis 1997 arbeitete er bei der Basler Ciba (Novartis) und baute dort die Forschungsgruppe „Proteinstruktur und computergestütztes molekulares Modelling“ auf. Seine Forschungsgebiete sind Strukturanalyse mittels Röntgenstrahlen und strukturbasiertes Wirkstoffdesign.


TABELLE

  • Finanzen 2001-2004 total: 29.9 Mio Franken, davon Bundesgelder: 14.4 Mio. Franken, UNIZH-Gelder: 7,8 Mio. Franken, ETH-Gelder 7.4 Mio Franken, UNIBS/PSI 0.3 Mio Franken
  • Leitende Institution: Universität Zürich
  • Partner im Netzwerk: ETH Zürich, Universität Basel, ETH Lausanne, Paul Scherrer Institut, Schweizerisches Institut für Bioinformatik
  • Anzahl akad. Mitarbeiter: ca. 70 (gut 40 Doktoranden)
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