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NFS „Neural Plasticity and Repair“: Neue Brücken zwischen Klinik und Forschung

Grundlagenforscher und Kliniker sollen gemeinsam Therapien für die Erkrankungen des Nervensystems entwickeln. Dieses Ziel setzt sich der nationale Forschungsschwerpunkt „Neuronale Plastizität und Reparatur“. Der Verbund von über 50 Forschungsgruppen will neue Ansätze für die Heilung von Alzheimer, Parkinson, Multiple Sklerose, Rückenmarkverletzungen und andere schwere Schädigungen finden.

Zwei Welten sollen zueinander finden: Zum einen ist es die für den Aussenstehenden abgeschottet scheinende Welt der Grundlagenforscherinnen und -forscher, welche mit Zellkulturen und Tiermodellen jenen Molekülen und Prozessen auf der Spur sind, die Krankheiten verursachen sollen. Zum anderen ist es die Welt des Leids und der Hoffnung in der klinischen Forschung, wo die physische Präsenz des Patienten die Wissenschaftler tagtäglich daran erinnern, wofür sie eigentlich forschen. Brücken zwischen diesen beiden Welten soll der neue Nationale Forschungsschwerpunkt (NFS) „Neuronale Plastizität und Reparatur“ schlagen. Er vereinigt über fünfzig Schweizer Forschergruppen aus den Neurowissenschaften.

Die enge Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschern und klinischen Wissenschaftlern ist dabei das charakteristische Merkmal des NFS. Diese soll in allen acht Projekten (siehe Kasten) forciert werden, die Forscher beider Welten sind beispielsweise verpflichtet, jeweils gemeinsam über Fortschritte ihrer Arbeit zu rapportieren. Hanns Möhler, Direktor des Forschungsschwerpunktes, sieht darin ein klares Bekenntnis hin zu einer Forschung, deren Resultate den Patienten zugute kommen soll: „Das Ziel ist die Schaffung, Etablierung oder Verbesserung von Therapien durch eine enge Zusammenarbeit von Forschung und Klinik“. Auf diese „strukturelle Innovation“ ist das Leitungs-Team des NFS – nebst Möhler noch Martin Schwab, Direktor des Zentrums für Neurowissenschaften Zürich (ZNZ) und Wolfgang Knecht, Manager des ZNZ – besonders stolz.

Angriff auf das menschliche Selbstverständnis

Erkrankungen des Nervensystems und insbesondere des Gehirns haben in einer rationalen Welt einen besonderen Schrecken. Sie greifen den Menschen dort an, wo er sein Selbstverständnis lokalisiert. Kontrolle über Körper und Geist zu verlieren, macht Angst; die Vorstellung, einen Gehirnschlag zu erleiden oder im Alter an Alzheimer zu erkranken und in Demenz hinzudämmern, verunsichert. Bereits die (derzeit noch) verschwindend kleine Anzahl an Creutzfeld-Jakob-Krankheitsfällen im Verbund mit der BSE-Krise konnte Nationen in zeitweilige Hysterie versinken lassen. Alzheimer wiederum ist für schätzungsweise die Hälfte aller Fälle von Altersdemenz verantwortlich. Therapien oder Möglichkeiten für eine Früherkennung sind angesichts der demographischen Entwicklung eminent wichtig. „Die Alzheimer-Forschung hat zwar in den vergangenen Jahren gute Fortschritte gemacht. Doch sie hat noch lange nicht jene Produktivität erreicht, welche aufgrund der Überalterung der Bevölkerung notwendig ist“, meint denn auch Martin Schwab.

Forschungen zur Bekämpfung solcher Krankheiten stossen damit sicher auf viel Goodwill. Doch allein damit kann man den Erfolg des Zürcher NFS-Projektes wohl kaum erklären. Tatsächlich ist die Schweiz in vielen Bereichen der Neurowissenschaften Weltspitze: Zu nennen ist etwa der Prionenforscher Adriano Aguzzi, einer der vielen Wissenschaftler, die im neuen Schwerpunkt kooperieren. Andere Forschungzweige – so die Untersuchung von Multipler Sklerose oder die Anwendung neuer bildgebender Verfahren – werden dank der NFS-Gelder in der Schweiz aufgebaut. Möhler: „Mindestens fünf neue Professuren mitsamt Forschungsgruppen können dank dem neuen Schwerpunkt finanziert werden.“ Rund 60 Prozent der Mittel werden in die Grundlagenforschung gesteckt – für Martin Schwab unabdingbar, „denn noch fehlen uns entscheidende Erkenntnisse für die Entwicklung neuer Therapien.“

Das Hirn zur Selbstreparatur veranlassen

Mit gutem Grund hoffen aber die Forscher auf baldige Fortschritte, hat doch die Hirnforschung in den vergangenen Jahren eine schier unglaubliche Menge an neuen Erkenntnisse gewonnen. So ist deutlich geworden, dass das Gehirn weit flexibler ist, als man einst dachte: Verbindungen zwischen Nervenzellen können sich neu organisieren (neuronale Plastizität) und Nervenzellen können neu entstehen. Dies weckt Hoffnungen, dass man dereinst verlorene Nervenzellen ersetzen und deren Verschaltung derart beeinflussen kann, das sich das Gehirn quasi selbst repariert.

Der Schwerpunkt soll dazu beitragen, dass die Neurologen dereinst wirklich heilen können. Schwab: „Neurologie ist heute zu etwa 90 Prozent eine diagnostische Disziplin. Wenn wir bei einer 27-jährigen Frau Multiple Diagnose feststellen, können wir kaum mehr sagen, als ihr den weiteren Krankheitsverlauf zu schildern.“ Übertriebene Hoffnungen wollen die NFS-Verantwortlichen zwar nicht wecken, doch in einigen der acht Projekten rechnen sie mit baldigen Erfolgen. „Wir sind zuversichtlich, dass wir im Bereich Rückenmarkverletzungen bald wichtige Schritte in Richtung einer wirklichen Heilung machen können“, so Möhler.

Unterstützt werden die Forscher des Schwerpunktes durch drei „Experten-Center“ in den Bereichen Genetik, Verhaltensbiologie und Bioinformatik, welche im Rahmen des NFS aufgebaut werden sollen. In diesen sollen wichtige Werkzeuge für die beteiligten Forschergruppen entwickelt werden.

Auffällig ist schliesslich auch, dass der weitaus grösste Teil der Forschergruppen aus Zürich stammt, einige wenige aus Basel, Bern, Genf und Freiburg. Der Forschungsschwerpunkt verstärkt damit den Konzentrationsprozess der Schweizer Neurowissenschaft auf Zürich. Davon profitiert insbesondere das Zentrum für Neurowissenschaften, welches bereits im Jahr 1999 mit Novartis einen Kooperationsvertrag im Umfang von 40 Millionen Franken abgeschlossen hat. Dass damit dem Sprichwort „Wer hat, dem wird gegeben“ Rechnung getragen werde, lassen die NFS-Verantwortlichen aber nicht gelten. Möhler: „Die Gelder werden für den Aufbau neuer Forschergruppen verwendet. Insbesondere junge Assistenz-Professoren mit einem Top-Leistungsausweis sollen damit nach Zürich geholt werden.“ Zudem sollen schliesslich die Wissenschaftler dazu ermuntert werden, Spin-Off-Firmen zu gründen – analog zur Firma Prionics, welche BSE-Tests produziert. Der Raum Zürich soll dank dem NFS zu einem der weltbesten Zentrum der Neurowissenschaften werden.


Hilfe am Patienten als Endziel

Der Neuro-NFS will letztlich Patienten helfen. Die meisten der acht Projekte orientieren sich an Krankheitsbildern, für welche die Forscher neue Lösungen entwickeln wollen:

  1. Stammzellen und Zelldifferenzierung: In den letzen Jahren wurde klar, dass auch im erwachsenen Gehirn aus Stammzellen mittels Zelldifferenzierung neue Nervenzellen entstehen können. Man setzt grosse Hoffnungen in die Stammzellen, um Nervengewebe regenerieren zu können. Sechs Forschungsgruppen sollen die Grundlagen der Zelldifferenzierung erforschen.

  2. Abnorme Proteine und neurodegenerative Krankheiten: Abnorme Proteine können die Ursache für das Verkümmern von Nervenzellen sein, was bedeutende Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson zur Folge hat. Acht Forschergruppen wollen untersuchen, wie diese Proteine entstehen, wo sie sich warum ablagern und wie sie damit die Nervenzellen schädigen.

  3. Hirnschlag und der Schutz von Nervenzellen: Bei einem Hirnschlag wird die Sauerstoffversorgung von bestimmten Teilen des Gehirns unterbrochen, was den Tod von Nervenzellen und eine schwere Schädigung des Gehirns verursacht. Sechs Forschergruppen wollen verstehen, wie genau der Tod von Nervenzellen zustande kommt und wie man diese vor dem Absterben bewahren kann.

  4. Epilepsie: Epilepsie ist eine meist chronisch verlaufende Krankheit, die sich im plötzlichen Auftreten von Bewusstseinsstörungen äussert. Sieben Forschergruppen untersuchen neue Tiermodelle für Epilepsie und neue therapeutische Strategien für eine Krankheit, die etwa gleich häufig wie Diabetes auftritt.

  5. Multiple Sklerose: Bei Multipler Sklerose wird die Myelinummantelung der Nervenzellen (eine Art Isolation) zerstört. Dies beeinträchtigt die Signalübertragung im Nervensystem und führt zu einem langsamen Zerfall der geistigen Fähigkeiten eines Menschen. Zwei neu zu schaffende Forschergruppen wollen dieses in der Schweiz noch ungenügend repräsentierte Forschungsgebiet aufbauen.

  6. Infektionen und Immunität im Nervensystem: Blut und Hirn sind durch eine Schranke voneinander getrennt. In bestimmten Fällen wird diese aber durchlässig – so etwa bei Prionenerkrankungen wie der Creutzfeld-Jakob-Krankheit. Sechs Forschergruppen wollen verstehen, warum die Blut-Hirn-Schranke versagen kann.

  7. Heilung von Rückenmarksverletzungen: Bei Rückenmarksverletzungen werden Nerven durchtrennt – Patienten werden gelähmt. Neun Forschergruppen wollen Wege finden, wie durchtrennte Nerven wieder funktionstüchtig werden können.

  8. Plastizität im Gehirn: Das Gehirn hat die Fähigkeit, sich aufgrund von Schädigungen neu zu organisieren (neuronale Plastizität). Neun Forschergruppen wollen unter Einsatz modernster bildgebender Verfahren untersuchen, wie das Gehirn dies schafft.


Hanns Möhler: Leiter des Schwerpunktes „Neuronale Plastizität und Reparatur“ ist Hanns Möhler, seit 1988 Professor an der ETH und Universität Zürich und Direktor des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Zürich. Er studierte Chemie und Biochemie in Deutschland, wo er auch doktorierte und habilitierte. Von 1980 bis 1988 arbeitete er bei Roche in Basel, wo er von 1986 bis 1988 als einer der Vizedirektoren für den Bereich Forschung wirkte. Seine Forschungsgebiete sind unter anderem die Untersuchung der Ursache von Angstzuständen und gentherapeutische Ansätze für die Epilepsie-Therapie.


TABELLE

  • Finanzen 2001-2004 (3 Jahre) total: 24.3 Mio Franken, davon Bundesgelder: 12.3 Mio. Franken, UNIZH-Gelder: 4,5 Mio. Franken, ETH-Gelder 4.5 Mio Franken, Industrie 3.0 Mio Franken
  • Leitende Institution: Universität Zürich
  • Partner im Netzwerk: ETH Zürich, Universitätsspital Zürich, Universitätsspital Basel, Novartis Pharma AG Basel, Universität Bern, Universität Genf,  Universität Freiburg, Klinik Valens
  • Anzahl akad. Mitarbeiter: 67 (4 Professoren, 24 Postdoktoranden, 39 Doktoranden)


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