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Die neuronalen Spuren von Angst und Depression

Mit Emotionsforschung und moderner Bildgebung psychische Krankheiten verstehen

Emotionale Störungen sind charakteristisch für psychische Krankheiten. Und da Emotionen dank der modernen Bildgebungsverfahren zu einem Trendthema der Hirnforschung geworden sind, erhofft man sich von dieser Entwicklung neue Zugänge für das Verständnis dieser Krankheiten.

Das Missverhältnis zwischen der Last psychischer Krankheiten und dem Aufwand für ihre Bekämpfung ist augenfällig: Laut dem letzten Weltgesundheitsbericht der WHO aus dem Jahr 2003 geht ein Drittel aller Lebensjahre, die Menschen weltweit als Kranke verbringen, auf das Konto psychischer Störungen. Gleichzeitig werden jedoch nur zwei Prozent der Gesundheitsbudgets zu ihrer Behandlung eingesetzt. Dies illustriert einerseits die mangelnde Ausschöpfung der heute schon zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten, andererseits spiegelt es aber auch die Tatsache, dass die neurobiologischen Mechanismen von Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen (z.B. Phobien oder Angstneurosen) noch gar nicht ausreichend bekannt sind.

Angst und Angstgedächtnis

Psychiatrie und Hirnforschung sind also mit der Aufgabe konfrontiert, mehr über die biologischen Grundlagen psychischer Krankheiten in Erfahrung zu bringen. Neuen Zugang können dabei vor allem zwei Gebiete der Neurowissenschaften bieten, die in den vergangenen Jahren stark an Aufmerksamkeit gewonnen haben: die «emotional neuroscience», also die Emotionsforschung, und die nichtinvasiven Bildgebungsverfahren (siehe Kasten).

Die Emotionsforschung hat zu einem Umdenken hinsichtlich der Bedeutung der verschiedenen Merkmale neuropsychiatrischer Krankheiten geführt – während für Erkrankungen wie Depressionen oder Zwangsstörungen bis Ende der 1980er Jahre noch kognitive Defizite als zentral galten, werden heute emotionale Störungen wie panische Angst als deren wichtigstes Merkmal angesehen. Die Bildgebung wiederum ermöglicht es, Hirnprozesse nichtinvasiv zu beobachten bzw. dem Gehirn gewissermassen «beim Arbeiten» zuzuschauen. Die zunehmende Auflösung der Bilder konnte zudem zeigen, dass gewisse psychiatrische Krankheiten auch mit subtilen anatomischen Veränderungen des Gehirns einhergehen können. Um die Bedeutung von Emotionsforschung und Bildgebung für die Psychiatrie zu diskutieren, haben das Zentrum für Neurowissenschaften Zürich und das Pharmaunternehmen Novartis kürzlich renommierte Wissenschafter aus aller Welt an einem Symposium in der Kartause Ittingen im Thurgau versammelt.

Der Emotionsforscher Raymond Dolan vom University College London diskutierte in Ittingen die Unterscheidung zwischen Stimulus-induzierten und kognitiv induzierten Emotionen. Zu ersterer gehört beispielsweise die Angst, die einen beim Anblick einer Schlange überkommt, während in die zweite Kategorie jene Angst fällt, die schon allein durch die Schilderung dieses Sachverhalts auftritt. Man vermutet, dass viele emotionale Störungen auf dieser kognitiven Ebene anzusiedeln sind und damit ohne äusseren Anlass auftreten. Über deren neurobiologischen Grundlagen weiss man bisher aber nur wenig, während die Stimulus-induzierten Emotionen sowohl beim Menschen als auch bei Säugetieren inzwischen recht gut verstanden sind. Sollten nun die neuronalen Systeme, die bei Stimulus-induzierten Emotionen aktiv sind, auch bei kognitiv induzierten Emotionen zum Tragen kommen, böte dies möglicherweise einen neuen Ansatzpunkt für die Behandlung psychischer Krankheiten.

So können durch Angstkonditionierung erlernte, Stimulus-induzierte Ängste auch wieder «verlernt» werden. Bei der Angstkonditionierung wird ein neutraler Stimulus, etwa ein blaues Quadrat, mehrfach zusammen mit einem schmerzhaften Reiz präsentiert, so dass später schon der eigentlich neutrale Stimulus allein Angst auslöst. Wird anschliessend der Angst-auslösende Stimulus wiederholt ohne den schmerzhaften Reiz präsentiert, nimmt die Angstreaktion wieder ab – man spricht von der sogenannten Extinktion. Eine andere Methode, Stimulus-induzierte Ängste wieder zu «verlernen», beruht auf einem relativ neuen Konzept der Gedächtnisforschung, der sogenannten Rekonsolidierung. Dieses Konzept besagt, dass jedes Aufrufen einer Erinnerung diese kurzzeitig in einen labilen Zustand versetzt. Die erneute Verfestigung des Gedächtnisinhaltes – eben die Rekonsolidierung – geht einher mit einer Synthese von Proteinen, die in Tierversuchen medikamentös blockiert werden konnte, so dass die Angstreaktion ebenfalls abnahm.

Elisabeth Phelps, Neurowissenschafterin an der New York University, untersucht nun, ob mit Hilfe dieser Methoden auch kognitiv induzierte Emotionen wieder «verlernt» werden können. Um zu prüfen, ob bei beiden Typen von Emotionen die gleichen Hirnregionen aktiv sind, braucht es die modernen, nicht-invasiven Bildgebungsverfahren, denn kognitiv induzierte Emotionen können nicht im Tierversuch studiert werden – sie scheinen eine Eigenheit des Menschen zu sein. Tatsächlich konnte Phelps zeigen, dass bei menschlichen Probanden Stimulus- und kognitiv induzierte Emotionen weitgehend dieselben Hirnregionen aktivieren, und zwar insbesondere den tief im Hirn liegenden Mandelkern (Amygdala) und den Insular-Cortex, ein Areal der Hirnrinde. In klinischen Studien prüft Phelps nun, ob sich die Rekonsolidierung des Angstgedächtnisses durch den bekannten Betablocker Propranolol blockieren lässt. Als Wirkmechanismus wird vermutet, dass Propranolol im Gehirn durch die Besetzung von bestimmten Rezeptoren die mit der Gedächtnisbildung einhergehende Synthese von Proteinen vermindert.

Marker für psychische Krankheiten

Das Beispiel der Angstforschung macht deutlich, welche Art von Information man sich vom Einsatz einer durch Bildgebung gestützten «emotional neuroscience» in der Psychiatrie erwartet: Man will die mit psychischen Krankheiten einhergehenden emotionalen Störungen mit anatomischen und funktionellen Veränderungen im Gehirn in Verbindung bringen, welche dann neue Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen bieten sollen. Kurz: Man sucht nach biologischen Markern für psychische Krankheiten. Den Forschern ist aber klar, dass dies nicht im Sinne einer simplen «Lokalisierung» geschehen kann – dass es also nicht die eine Hirnregion gibt, deren Fehlfunktion etwa eine Depression charakterisiert.

Der Hirnforscher Wayne Drevets von den National Institutes of Health in Bethesda, USA, postuliert vielmehr ein Modell von Depression, das zwei Netzwerke von Hirnregionen umfasst, deren aufeinander abgestimmte Aktivitäten im Fall einer depressiven Erkrankung ausser Balance geraten. Konkret würde das eine Netzwerk, das Strukturen des limbischen Systems und des Hirnstamms enthält, seine Aktivität erhöhen, während das andere Netzwerk, das Teile des präfrontalen Cortex (also im vordersten Bereich des Gehirns) umfasst, seine Aktivität vermindert. Der Blick auf diese Systeme mittels Bildgebung erlaubt es, eine als Folgeerkrankung (etwa der Parkinson-Krankheit) auftretende Depression von einer manisch-depressiven Störung zu unterscheiden, während eine solche Unterscheidung für den Patienten anhand des psychischen Erlebens nicht immer möglich ist. Mit Hilfe der bildgebenden Verfahren liessen sich also die geeigneten therapeutischen Strategien auswählen, so Drevets.

Von Nutzen auch bei klinischen Studien?

Der Psychiater Martin Paulus von der University of California in San Diego möchte die moderne Bildgebung – konkret die funktionelle Magnetresonanz-Tomographie (fMRI) – im Rahmen klinischer Medikamentenstudien nutzen. Diese sogenannte Pharmako-fMRI gewinnt zunehmend an Bedeutung, da die Entwicklung von Medikamenten gegen psychische Krankheiten aufgrund deren unscharfer Diagnose mit grossen Schwierigkeiten behaftet ist. So überstehen laut Paulus in klinischen Studien viele vielversprechende Wirkstoffe die Unbedenklichkeitsprüfung (Phase-1-Studie), aber nicht die Überprüfung des Therapiekonzepts (Phase-2-Studie). Würde man die oben genannten neurobiologischen Marker für psychische Krankheiten kennen, liesse sich zuerst bei vergleichsweise wenigen Probanden (zwischen Phase 1 und 2) untersuchen, ob die zu prüfenden Wirkstoffe die Aktivität in diesen Hirnregionen überhaupt beeinflussten, ohne dass gleich umfassende Phase-2-Versuche nötig seien, erklärt Paulus den Ansatz.

Paulus selbst prüft dieses Konzept am Beispiel der Angst – auch hier scheint laut Bildgebungsstudien ein ganzes Netz von Hirnregionen beteiligt zu sein. Erste Versuche an gesunden Probanden zeigen, dass es zumindest beim (bereits bekannten) Wirkstoff Lorazepam, einem Benzodiazepin wie Valium, eine Korrelation zwischen der Dosis des Medikaments und der Aktivität in den verschiedenen Hirnregionen gibt: In manchen Hirnregionen sorgen höhere Dosen für eine verstärkte, in anderen für eine geringere Aktivität.

Insgesamt haben die Präsentationen in Ittingen erahnen lassen, dass die durch Bildgebung unterstützte «emotional neuroscience» bei der Erforschung psychischer Erkrankungen weiter an Bedeutung zunehmen wird. Den Forschern ist aber auch klar, dass die Kluft zwischen dem inneren Erleben durch den psychisch kranken Menschen und den damit verbundenen Hirnaktivitäten nicht so einfach zu schliessen ist. Es ist kein Zufall, dass die Forschenden in ihren Studien primär die Angst untersuchen – die derzeit wohl einzige Emotion, deren Phänomenologie vergleichsweise einheitlich ist und über deren biologische Marker man sich weitgehend einig ist.

Bei depressiven Erkrankungen hingegen ist vieles noch unklar. So erwähnte Drevets den Befund, dass Depressionen mit der Schrumpfung gewisser Hirnregionen einhergehen können, die teilweise sogar vor dem Auftreten von Krankheitssymptomen sichtbar wird. Diese Schrumpfung ist offenbar aber weder ein notwendiger noch ein hinreichender biologischer Marker einer Depression. Zudem bewirken einige Medikamente (wie Lithium) eine Umkehrung der Schrumpfung, während andere Medikamente (etwa sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) dies nicht tun – obgleich der Patient in beiden Fällen eine Linderung verspüren kann . Dies macht deutlich, dass der Blick ins Hirn allein auch in Zukunft nicht darüber entscheiden wird, ob eine psychische Krankheit nun als geheilt erklärt werden kann oder nicht.

Markus Christen

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