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Der Placebo-Effekt: Nützlich, aber theoretisch umstritten

Der Placebo-Effekt verspricht ein Heilen ohne Wirkstoff. Was auf den ersten Blick als eine Herausforderung an eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin erscheint, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem kontroversen Thema entwickelt. „Thema im Fokus“ beleuchtet jüngste Studien zur Anwendung von Placebos in der Praxis und Theorien über mögliche Wirkungsmechanismen von Placebos.

Der Placebo-Effekt ist ein bekanntes, aber immer noch kontroverses Thema in der heutigen Medizin. Manche sehen im Placebo-Effekt eine raffinierte und nützliche Variante eines medizinischen Betrugs. Für andere wiederum wirken Placebos auf der mentalen bzw. psychischen Ebene, indem sie – eingebettet in einen medizinischen Handlungszusammenhang – Erwartungen der Patientinnen und Patienten erfüllen und dadurch heilsam wirken. Wieder andere benutzen das Test-Instrumentarium der Evidence Based Medicine und halten den Placebo-Effekt für einen medizinisch unwirksamen, jedoch in der Medizin weit verbreiteten Mythos, der therapeutisch nicht eingesetzt werden sollte. Der Ursprung des Begriffs, das lateinische „placebo – ich werde gefallen“, scheint mit allen Interpretationen im Einklang zu sein. Dadurch nicht beantwortet wird aber die Frage, ob das „Gefallen“ eingesetzt werden darf oder soll.

In einem weiteren Sinn ist der Begriff bereits in Mittelalter im medizinischen Kontext verwendet worden, und zwar in der Totenliturgie. Dort bezeichnete „Placebo“ die Gefälligkeit, die ein Arzt einem Patienten dessen Beschwerden er für untherapierbar oder eingebildet hält, auf dessen Wunsch hin erweist. Um die Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert fand der Begriff dann auch Eingang in medizinische Lexika, wobei er aber bereits eine eher negative Färbung erhielt. Das Medical Dictionary von Hooper (1812), zum Beispiel, definierte Placebos als „any medicine adapted more to please than benefit the patient“. Erste systematische und experimentell kontrollierte Einsätze von Placebos in der Medizin gehen auf die 1930er Jahre zurück. Als Kontrollinstrumente in Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten erhielten Placebos ab den 1950er Jahren eine wichtige Funktion.

Dieser Einsatz von Placebos in Medikamentenprüfstudien ist der Hauptgrund, dass sich über 100'000 Artikel zum Stichwort „Placebo“ in der Datenbank „MedLine“ der National Institutes of Health finden. Weit weniger Studien – etwas über 2000 – beschäftigen sich mit der eigentliche Wirkungsweise von Placebos. Nimmt man die Anzahl der pro Jahr erschienenen Artikel zu diesem Thema als Massstab, ist aber in jüngsten Jahren ein stark gestiegenes Interesse auszumachen. Waren noch bis zu Beginn der 1990er Jahre jährlich nie mehr als 50 Artikel zu diesem Thema erschienen, so vervierfachten sich etwa diese Zahl nach der Jahrtausendwende. Dies ist kein Resultat einer generell gestiegenen Publikationstätigkeit, zeigt doch der relative Anteil der Zahl der Publikationen zum Thema Placebo-Effekt einen vergleichbaren Anstieg. Dies mag verschiedene Gründe haben: Zum einen bietet der Placebo-Effekt ein mögliches Erklärungsschema für die Wirkungsweise alternativmedizinischer Ansätze – beispielsweise für die Homöopathie. Da die Alternativmedizin, vorab bei den Patienten, auf zunehmende Akzeptanz stösst, steigt auch das Interesse der medizinischen Erforschung dieses Phänomens. Zum anderen ist der Placebo-Effekt auch eine Herausforderung an die Evidence Based Medicine, welche sich der Frage widmet, ob Placebos nun tatsächlich eine Wirkung haben oder nicht.

Zweifel am Placebo-Effekt

Tatsächlich lässt sich die Geschichte der wissenschaftlichen Behandlung des Placebo-Effekts als eine Geschichte des Streites um die angemessene statistische Betrachtung des Phänomens schreiben. So hat in den 1950er Jahren der amerikanische Schmerzforscher Henry Beecher in einer Serie Aufsehen erregender Studien die These vom „Powerful Placebo“ formuliert und damit einen medizinischen Mythos geschaffen. In seinen Medikamentenstudien an frisch operierten Patienten hat ein Scheinmedikament in 26 bis 40 Prozent der Fälle zu einer Reduktion des Wundschmerzes geführt. Es dauerte bis 1997, als eine Studie (Kienle, Kiene 1997) schwere Mängel an Beechers Versuchsanordnung feststellte: So konnte beispielsweise nicht zwischen Placebo-Effekt und Spontanheilung unterschieden werden. Ein weit härterer kritischer Schlag gegen die behauptete Wirksamkeit von Placebos erfolgte im Jahr 2001, als zwei dänische Forscher basierend auf einer Meta-Analyse von 114 Studien, welche explizit den Placebo-Effekt untersuchten, postulierten, dass der Placebo-Effekt keine statistisch nachweisbare klinische Wirkung habe (Hróbjartsson, Gøtzsche, 2001). Viele Studien zu diesem Thema seien zudem mangelhaft durchgeführt worden – vorab solche mit nur wenigen Versuchspersonen. Da solche Studien tendenziell einen grösseren Placebo-Effekt finden als Studien mit vielen Teilnehmern, sei zudem zu vermuten, dass andere Kleinstudien mit negativem Resultat gar nicht erst publiziert würden. In einer 2004 nachgelieferten Ergänzungsstudie, in welcher Hróbjartsson und Gøtzsche 52 aktuelle Untersuchungen des Placebo-Effekts analysierten, wurde dieser Befund im wesentlichen bestätigt. Mögliche Effekte von Placebos seien lediglich im Bereich Schmerz zu erwarten, obgleich auch hier kein eindeutiger statistischer Effekt nachgewiesen werden könne. So schlossen die Autoren der Studie bereits 2001: „Outside the setting of clinical trials, there is no justification for the use of placebos.“

Diese Ergebnisse haben einen grossen Wirbel in der medizinischen Fachwelt ausgelöst, der bis heute andauert. So erschienen beispielsweise im Neu England Journal of Medicine kurz nach der Publikation der Studie zehn Leserbriefe, welche grösstenteils ihrerseits die Methodologie von Hróbjartsson und Gøtzsche angriffen. Unter anderem wurde kritisiert, dass die Heterogenität der verschiedenen Studien eine Meta-Analyse gar nicht zuliesse. Zudem wurde der in der Meta-Analyse vorgenommene Vergleich zwischen Placebo-Behandlungen und solchen, wo gar kein Medikament verabreicht wurde, angegriffen, da auch im letzteren Fall die Patienten medizinisch betreut wurden. Gerade diese Betreuung sei ein Kernpunkt des Placebo-Effekts, so dass zwischen diesen beiden Patientengruppen nicht unbedingt ein Unterschied zu erwarten sei. Diese Kontroverse führte gar dazu, dass eine in diesem Jahr publizierte Meta-Analyse (Wampold et al., 2005), welche dieselben Studien untersuchte, die bereits der Arbeit von Hróbjartsson und Gøtzsche zugrunde lagen, zu einem gegenteiligen Schluss kam: In dieser Studie wurden nur jene Krankheiten betrachtet, bei welchen ein Placebo-Effekt erwartet werden könnte. Zudem wurde das Studiendesign so geändert, dass die Wirkung des Placebo-Effekts mit der Wirkung des tatsächlichen Medikaments verglichen wurde. Derart sei in der Tat ein statistisch signifikanter Placebo-Effekt nachweisbar.

Diese Kontroverse zeigt die Schwierigkeit einer angemessenen Betrachtung eines Phänomens, in die sehr viele unscharfe Variablen einfliessen – namentlich die Beziehung Arzt-Patient, sowie die durch die Patienten selbst vorgenommene Selbsteinschätzung der persönlichen Befindlichkeit. Letztere ist es, welche in Placebo-Studien (wie auch offenbar in den Studien des Bundes zur Komplementärmedizin) oft erfasst wird, um die Wirksamkeit des Effektes zu prüfen. In diese Selbsteinschätzung können aber wiederum viele Faktoren einfliessen – beispielsweise eine von Hróbjartsson und Gøtzsche festgestellte Tendenz, dass Patienten, um Studienleiter nicht zu enttäuschen, die Verbesserungen der Befindlichkeit überbetonen.

Placebos in der Praxis

Diese Kontroverse über die korrekte Untersuchung des Placebo-Effekts deutet darauf hin, dass sich der Effekt in einer klinischen Studie möglicherweise anders ausdrückt als in der klinischen Praxis. Das lässt sich auch aus der Tatsache schliessen, dass (die wenigen) Studien, welche den Gebrauch von Placebos in der Praxis quantifizieren, eine recht weite Verbreitung von Placebos zeigen. Gemäss einer dänischen Studie setzt knapp die Hälfte aller befragten Kliniker mindestens zehn Mal pro Jahr auf eine Placebo-Intervention – beispielsweise Vitamine gegen Schlaflosigkeit oder Antibiotika bei Virusinfektionen. Dies hauptsächlich, um einen Konflikt mit dem Patienten zu vermeiden oder mit dem Ziel, einen Placebo-Effekt medizinische zu nutzen (Hróbjartsson, Norup, 2003). Gemäss einer israelischen Studie benutzten 60 Prozent der Befragten Placebos – zwei Drittel von diesen setzten diese mindestens ein Mal pro Monat ein. Nur fünf Prozent der Befragten hielten den Einsatz von Placebos für ethisch verwerflich (Nitzan, Lichtenberg, 2005). In der Praxis kommen also Placebos durchaus zum Einsatz, was ein deutlicher Hinweis ist, dass diese nützliche Effekte haben. Generell zeigt sich dabei, dass Placebos umso stärker wirken, je enger ein Leiden mit der persönlichen Wahrnehmung des Patienten zusammenhängt. Deshalb ist beispielsweise die Behandlung von Schmerzen eines der Hauptanwendungsgebiete von Placebos (siehe auch Interview).

Offen bleibt aber weiterhin die Frage, wie denn nun eine Wirkung von Placebos erklärt werden kann. Die moderne Hirnforschung bietet hier einen neuen Ansatzpunkt. Mittels bildgebender Verfahren kann untersucht werden, welche Areale des Gehirns bei einer allfälligen Wirkung eines Placebos aktiv sind. Eine wegweisende Studie dazu wurde 2004 im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht (Wager et al 2004). Die Probanden sollten die Wirkung einer schmerzlindernden Salbe ausprobieren. Auf die Handgelenke wurde (mit Wissen der Versuchspersonen) das angebliche Medikament oder eine einfache Handcreme aufgetragen – in Tat und Wahrheit war dies in beiden Fällen die Handcreme. Danach wurden die Probanden in einen fMRI-Scanner gelegt und die Handgelenke wurden mit Elektroschocks gereizt. Tatsächlich beschrieben die Versuchspersonen die Stromschläge als weniger schmerzhaft, wenn sie glaubten, mit der angeblich lindernden Salbe behandelt worden zu sein. Die Aktivität jener Hirnregionen, welche an der Verarbeitung von Schmerzen beteiligt sind, spiegelt ziemlich genau die angegebene Stärke der schmerzhaften Empfindung wider. Dieses Resultat wird so interpretiert, dass der Placebo-Effekt nicht ein „kognitives“ Phänomen ist (etwa im Sinn, dass das Bewusstsein einen tatsächlich vorhandenen Schmerz nachträglich mildert), sondern bereits auf der Ebene der Entstehung des Schmerzempfindens ansetzt. Sicherlich lassen sich auch bei solchen bildgebenden Studien eine Reihe methodischer Schwierigkeiten identifizieren. Zudem gibt diese Art von Studien auch keine Antwort auf die Frage, warum das Gehirn auf Placebos überhaupt anspricht. Obgleich also Placebos in der Praxis ihre Nützlichkeit gezeigt haben, bleiben hinsichtlich der Erklärung des Effektes noch viele Fragen offen.

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