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Ethische Fragen an der Mensch-Maschine-Schnittstelle

Hirnforschung verändert unser Menschenbild und unser Verhältnis zu den Maschinen. Dies glauben jedenfalls führende Wissenschaftler wie Philosophen. Der Mensch von der Strasse verfolgt diese Entwicklungen mit einer Mischung von Faszination und Grusel.

Die Neurowissenschaften sind derzeit weltweit eine der am schnellsten wachsenden Wissenschaftszweige. Deutlich wird dies etwa am Wachstum des US-amerikanischen Berufsverbandes der Neurowissenschafter: 1970 bestand dieser aus 500 Mitgliedern, heute vereinigt diese Organisation 28'000 Forscherinnen und Forscher. Neurowissenschaft ist dabei immer noch mehrheitlich ein beschreibendes Unterfangen und verfolgt eine Strategie, die von der Erforschung der Vorgänge auf kleinster Ebene - also auf Stufe der Nervenzellen und Moleküle - ausgeht. Diese Forschung wird in der Regel aus medizinischen Gründen als wichtig befunden, so soll sie die Heilung von Krankheiten wie Alzheimer oder Multiple Sklerose vorantreiben. Ethische Probleme dieses Forschungsansatzes fallen deshalb meist in den Bereich der Bioethik und werden mit den dort gängigen Argumentationsansätzen behandelt.

Ein kleiner Teil der Hirnforscher verfolgt jedoch einen anderen Ansatz: Mit einer Strategie von oben nach unten (top-down) sollen die Leistungen des Gehirns oder von Teilsystemen (z.B. des Sehsystems) untersucht und mit Computermodellen erfasst werden. Dieser Ansatz – Neuroinformatik – findet seine Wurzeln in den Systemwissenschaften, welche in der Mitte des 20. Jahrhunderts formuliert wurden. Die Biologie erlebt heute generell einen Einbruch der Informationswissenschaften und die Neuroinformatik ist quasi der „neurobiologische Ausdruck“ dieser Entwicklung. Trotzdem bilden Neuroinformatiker derzeit einen kleinen Teil aller Neurowissenschaftler. Rodney Douglas, Leiter des Zürcher Instituts für Neuroinformatik, schätzt ihren Anteil auf etwa fünf Prozent.

Inspiration für Technologie

Neuroinformatik verfolgt zwei Ziele: Die Informationsverarbeitung in biologischen Systemen soll verstanden und technisch nachgebildet werden. Von der wirtschaftlichen Perspektive aus gesehen dürfte Hirnforschung als Inspiration für Technik an Stellenwert gewinnen. Diese Schlussfolgerung lässt sich aus den OECD-Prognosen zum Wachstum der Märkte in den Bereichen „Neurogesundheit“ und Informationstechnologie ziehen. Für erstere wird weltweit ein lineares Wachstum prognostiziert, letztere Märkte wachsen exponentiell. Damit besteht eine Nachfrage nach neuen Ansätzen in der Informationstechnologie, welche wohl auch von der Neuroinformatik geliefert werden.

Was bedeutet dieses Szenario für die ethische Beurteilung der Neurowissenschaften generell und der Neuroinformatik im Speziellen? Wichtig ist zum einen, dass Neuroinformatik viel mehr den Ingenieurwissenschaften als der Medizin zuneigt. Geht es darum, ihren gesellschaftlichen Nutzen offen zu legen, kann sie deshalb die Hoffnungen der medizinisch inspirierten Hirnforschung kaum in Anspruch nehmen. Sie sieht sich vielmehr einer „Frankenstein-Kritik“ ausgesetzt: Neuroinformatik will quasi das wichtigste Organ des Menschen nachbauen. Auch wenn dies bis in weite Zukunft kein realisierbares Unterfangen ist, wird Neuroinformatik mit einer gewissen gesellschaftlichen Grundskepsis rechnen müssen.

Dem steht aber gegenüber, dass die wirtschaftlichen Aussichten von aus der Neuroinformatik erwachsenden Technologien mittelfristig vielversprechend sind. Ihre ingenieurhaften Züge dürften dabei insbesondere in zwei Bereichen zu gesellschaftlich bedeutsamen Debatten führen: Zum einen wird sich die Schnittstelle Mensch-Maschine in absehbarer Zeit bis hin in den kognitiven Bereich ausdehnen (siehe untenstehende Reportage). Zum anderen wird die Neuroinformatik zu einer Umdeutung des Begriffs „Maschine“ beitragen. Die meisten Hirnforscher gehen davon aus, dass letztlich „nur“ komplexe Interaktionen von Materie all das verursachen, was wir Geist nennen. Der Versuch, das Wissen über das Hirn als Technologie verfügbar zu machen, wird in einem stärkeren Sinn als andere Hirnforschung zu einem rein materialistischen Verständnis des menschlichen Geistes beitragen.

Hier muss man aber aufpassen: Gerade dieser Bereich weckt weitgehende Phantasien einer umfassenden „technologischen Überwindung des Menschen“. So weit ist die Hirnforschung nicht. So sind immer noch zentrale Konzepte wie der Informationsbegriff in den Neurowissenschaften nicht geklärt. Im Sinn einer Früherkennung gilt es aber zu beachten, dass die Problematik des Abwägens zwischen wirtschaftlichen Chancen und wissenschaftlichem Faszinosum einerseits und der Gefahr technischer Fehlentwicklungen andererseits in diesem Bereich schärfer diskutiert werden dürfte, als in anderen Bereichen des technischen Fortschritts.


Träume vom Cyborg und vom künstlichen Bewusstsein

Glauben Sie, dass Sie fein säuberlich zwischen Geist, Körper und Maschine trennen können? Sie irren sich, so die Meinung der modernen Wissenschaft. Sie ist daran, trennende Mauern zwischen beseelter, lebender und toter Materie einzureissen. Die Hirnforschung ist die Avantgarde dieses Vereinigungsprozesses, der im 21. Jahrhundert zu einem tiefgreifenden Wandel unseres Menschen- und Naturbildes führen wird. Die Forscherinnen und Forscher sind überzeugt, Mittel und Methoden zu besitzen, um grundlegende Fragen zu beantworten: Wie entstehen höhere Hirnleistungen wie beispielsweise das Gedächtnis? Was ist Bewusstsein? Können wir bewusste Artefakte bauen? Wie können wir Geist und Maschine vereinen? Science-Fiction-Autoren haben bereits den Begriff geprägt für das, was uns letztlich erwarten könnte: Cyborgs – kybernetische Organismen. Maschinenmenschen.

Am weitesten wagen sich jene Forscher vor, welche mit den Mitteln modernster Computertechnologie arbeiten. Einer davon ist Terrence Sejnowski: „Wir werden einen Computer bauen, der wie das Gehirn funktioniert. Und ich sage Ihnen, wo dies geschehen wird: in Telluride, Colorado. Dort treffen wir uns alljährlich und kreieren das Design von Schaltkreisen, welche sich an der Struktur des Hirns orientieren.“ Wir, das sind Leute aus dem Umfeld der „computational neurobiology“, Sejnowski ist einer ihrer prominentesten Vertreter. Er ist seit zehn Jahren am berühmten Salk Institut in San Diego und leitet das Labor für computergestützte Neurobiologie.

„Zuerst die Fliege verstehen!“

Noch ist es aber nicht so weit, dass Computer zum „ich denke, also bin ich“ gelangen können. Sejnowski: „Wir sind auf der Ebene von Käfern. Wollen wir weiter gehen, müssen wir unser Verständnis von Programmierung ändern. Wir brauchen einen riesigen, teuren Supercomputer, um rechnerisch das nachzuvollziehen, was im Hirn einer Fliege passiert. Doch eine Fliege ist klein, leicht und kann viel mehr!“ Somit ist ein Weg der kleinen Schritte angebracht, welche aber auch die Mensch-Maschine-Schnittstelle verändern soll. Sejnowski: „Heutige Computer sind immer noch sehr kompliziert. Der Mensch muss sich ihnen anpassen. Wir arbeiten daran, dass sich die Computer uns anpassen, was die Kommunikation Mensch-Computer verbessern wird.“

Die grösste Aufgabe in diesem Versuch, Mensch und Maschine zu vereinen ist die Erklärung und damit letztlich der Nachbau des Bewusstseins. Damit beschäftigst sich die visionärste aller neurowissenschaftlicher Forschungsanstalten in San Diegos – das Neuroscience Institute (NSI). Direktor des NSI ist der Nobelpreisträger Gerald. M. Edelman. Das NSI ist rein privat finanziert, beschäftigt maximal 40 Leute und bietet diesen so viel Freiheit wie nur möglich. Gerald Edelman erklärt dazu: „Ich wollte einen Ort schaffen, wo Wissenschaftler ungestört forschen können, frei von jeglicher Politik und von finanziellen Zwängen. Unsere Dinge kann man nicht in der Kirche der Wissenschaft tun.“

Sein Anspruch erscheint gewaltig: „Wir brauchen Theorie, wir erdenken Theorie, wir haben die beste Theorie.“ Die riesige Menge an neurowissenschaftlichen Daten muss in ein theoretisches Fundament über das Gehirn gegossen werden, so Edelmans Überzeugung: „Das Übermass an Fakten kontrastiert mit einem Mangel an Ideen.“

Für Edelman steht dabei ausser Zweifel, dass es dereinst bewusste Artefakte geben wird: „Wir werden sicher zuerst künstliches Bewusstsein schaffen, bevor wir auf ausserirdische Intelligenzen stossen.“ Doch noch ist auch Edelman nicht klar, wann diese Theorie des Bewusstseins vorliegen wird. Er weiss aber, dass Hirnforscher und nicht Philosophen die Antwort auf diese Frage finden werden: „Philosophen fragen, bevor sie überhaupt die Mittel haben, Antworten zu finden. Es ist einfach Unsinn zu glauben, das Rätsel des Bewusstseins liesse sich rein durch Denken lösen.“

Und die Seele?

Patricia Churchland ist Philosophin. Doch sie stimmt Edelman zu: „Das Endziel ist die Reduktion der Psychologie auf Neurowissenschaft. Reduktion heisst, eine Erklärung des Bewusstseins in der Sprache der Neurowissenschaft zu finden, denn alle Aktivitäten des Geistes basieren auf Vorgängen im Gehirn.“ Sie macht damit eine Trennung rückgängig, die auf den französischen Philosophen René Descartes zurück geht. Dieser postulierte in seinem 1641 erschienenen Hauptwerk „Meditationen über die Erste Philosophie“ zwei ganz unterschiedliche Welten: die ausgedehnte Substanz (der Platz für das Hirn) und die denkende Substanz (der Geist). Diese Dualismus genannte Theorie spurte den Weg der nachfolgenden Wissenschaft vor: Die einen untersuchten Hirne, die anderen – die Philosophen – dachten über den Geist nach.

Letztere scheinen nun arbeitslos zu werden. Churchland meint dazu: „Die Hälfte meiner Kollegen sind Dualisten im Sinn von Descartes. Sie glauben, dass es eine denkende Substanz gibt, die man am besten durch Introspektion verstehen könnte. Sie glauben auch, dass ich verrückt bin.“ Sie selbst fühlt sich durch den Fortschritt der Neurowissenschaften aber nicht angegriffen. Sie nimmt die Rolle einer Mahnerin ein, die erklärt, dass aller Euphorie zum Trotz noch zentrale Fragen der Hirnforschung ungelöst sind: „Die Neurowissenschaft ist immer noch eine junge, unreife Wissenschaft. Es fehlt ein einheitliches Erklärungsraster.“

Klar ist aber auch für sie, dass die Ergebnisse der Hirnforschung unser Menschenbild künftig verändern wird. Kürzlich publizierten Forscher des Medical Center von Iowa eine Studie, welche Hirnschäden mit dem Ausfall von Nächstenliebe und Verantwortungsbewusstsein in Verbindung brachten. Churchland zu diesen Resultaten: „Die Frage der sozialen Gerechtigkeit wird komplizierter werden, wenn wir mehr über die Zusammenhänge zwischen Hirnschäden und asozialem Verhalten wissen.“

Und wo bleibt eigentlich die Seele? Churchland: „Gehirne schaffen eine Repräsentation von sich selbst. Ein Neurowissenschaftler könnte dies Seele nennen. Doch ich glaube nicht, dass sie noch an eine Seele glauben können, die nach dem Tod des Gehirns weiter existiert.“

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