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Das Santa Fe Institut – Botschafter der Komplexität

Seit den 80er Jahren ist die Rede von Komplexitätsforschung. Diese setzt sich das Ziel, grundlegende Prinzipien zu Struktur und Dynamik komplexer Systeme zu finden. Der interdisziplinäre Ansatz und der umfassende Einsatz des Computers als Werkzeug der Forschung charakterisieren diesen Wissenschaftszweig. Quasi das spirituelle Zentrum der Komplexitätsforschung ist das Santa Fe Institut (SFI) im US-Bundesstaat New Mexico.

Die Erscheinungswelt ist vielgestaltig und komplex. Wissenschaft setzt sich seit jeher das Ziel, diese Komplexität zu reduzieren und mittels einfacher Naturgesetze zu erklären. Seit gut zwanzig Jahren ist jedoch Komplexität explizit zum Forschungsgegenstand geworden. Aus einer Reihe verschiedener Disziplinen – zu nennen sind unter anderem die Chaostheorie (Theorie dynamischer Systeme) und die Selbstorganisationsforschung – entwickelte sich die sogenannte Komplexitätsforschung. Deren Gegenstand lässt sich nicht so einfach eingrenzen. Vielmehr will die Komplexitätsforschung sehr unterschiedliche Phänomene untersuchen, in welchen das lokale Zusammenspiel von Teilen eines Systems zu sogenannt emergenten Phänomenen führt. Der Begriff der Emergenz wird gern mit dem Satz „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ umschrieben und ist ein wichtiges Konzept der Komplexitätsforschung. Wie genau Emergenz verstanden werden soll, ist auch heute ein noch nicht geklärtes Phänomen, obgleich Wissenschaftler aus dem Umfeld der Komplexitätsforschung Vorschläge unterbreitet haben, wie Emergenz quantitativ fassbar werden könnte.

Komplex-adaptive Systeme

Beispiele solch komplexer Phänomene und damit Gegenstand der Komplexitätsforschung sind Muster, die in zellulären Automaten (ein Rechnermodell) auftreten, die Mechanismen der Evolution auf molekularer Ebene, das Zusammenwirken der verschiedenen Zellen im Immunsystem oder auch die Entstehung von Märkten. Solche Systeme werden generell als „komplex-adaptive Systeme“ verstanden, als vielgestaltige, anpassungsfähige Systeme. Die Komplexitätsforschung geht davon aus, dass sich bei diesen doch sehr unterschiedlichen Phänomenen gemeinsame Grundprinzipien finden lassen, welche deren Entwicklung und Verhalten beschreiben. Der Physiker Murray Gell-Mann, ein Mitbegründer des Santa Fe Instituts, brachte diese Überzeugung auf die Formel, Oberflächenkomplexität lasse sich durch Tiefeneinfachheit erklären.

Ein derart ambitiöses Unterfangen verlangt ein hochgradiges interdisziplinäres Vorgehen. Dies zu ermöglichen, war eine der Absichten, welche hinter dem Aufbau des Santa Fe Instituts im Jahr 1984 standen. Die Gründung des Instituts steht im Zusammenhang einer Reihe von Veranstaltungen im nahe gelegenen Los Alamos National Laboratory (LANL), einst eine Schlüsselinstitution im amerikanischen Manhattan-Projekt, dem Bau der Atombombe. Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen im Umfeld des LANL suchten zu Beginn der 80er Jahre nach neuen Strategien für die Erforschung komplexer Systeme. Im Gründungskomitee vertreten war insbesondere die Physik, unter anderem mit den Nobelpreisträgern Murray Gell-Mann (Teilchenphysik) und Philip Anderson (Festkörperphysik). Diese Gründerzeit war enthusiastisch, wie sich verschiedene der damals beteiligten Wissenschaftler erinnern: Forscher aus unterschiedlichsten Disziplinen stellen im Rahmen der Treffen innerhalb des SFI fest, dass sie sich mit strukturell analogen Fragestellungen beschäftigten. Zudem stand mit dem Vokabular der sich entwickelnden Komplexitätsforschung ein gemeinsam verwendbarer Begriffsapparat zur Verfügung.

Ökonomie und Physik

Diese interdisziplinäre Grundausrichtung ermöglichte eine neue Herangehensweise an alte Probleme. Die erste grössere Veranstaltung des SFI, der Workshop „The Economy as an Evolving Complex System“ im Jahre 1988 brachte Physiker und Ökonomen zusammen und ist eine der Wurzeln einer Disziplin, die man heute „Econophysics“ nennt. Diese untersucht, wie Methoden der Physik zum Verständnis ökonomischer Probleme beitragen können – etwa die Frage, ob sich wirtschaftliche Krisen voraussagen lassen. Ökonomische Fragestellungen bilden auch heute einen der Schwerpunkte des SFI und ehemalige Mitarbeiter des SFI gründeten gar eine Firma, welche sich mit der Voraussagbarkeit von Börsenkursen beschäftigt (die „Prediction Company“ in Santa Fe).

Dieses Zusammengehen von Ökonomie und Physik ist nur ein Beispiel für den hochgradig interdisziplinären Charakter des Santa Fe Institutes. Dieses beschäftigt sich denn auch nicht mit Fragestellungen einer bestimmten Disziplin. Vielmehr werden grundlegende Problemstellungen und Konzepte diskutiert, welche in verschiedenen Disziplinen Anwendung finden können. Aktuelle Beispiele sind die Erforschung der Berechnungsvorgänge in Physik und Biologie, die Analyse der Dynamik von Evolutionsprozessen, beispielsweise auf der Ebene biologischer Makromoleküle oder die Untersuchung der Robustheit von verschiedenen Netzwerken (z.B. Genom, Ökosysteme, Computernetzwerke) gegenüber Störungen. Ein Grundproblem ist beispielsweise die Rolle der Informationsübertragung und Kontrolle in biologischen Netzwerken, für deren Lösung theoretische Werkzeuge entwickelt werden. Diese Fragen sind auch von praktischer Relevanz, denn eine Reihe von Krankheiten betreffen gerade die Störung solcher Kommunikationsnetze. HIV beispielsweise befällt die T-Helferzellen und stört damit das Kommunikationsnetz des Immunsystems massiv. Forscher am SFI untersuchen zusammen mit anderen Gruppen die Kommunikation im Immunsystem aus einer theoretischen Warte, um Aids besser verstehen zu können.

Derartige fächerübergreifende Fragestellungen werden meist von Mitgliedern der external faculty, derzeit über 70 weltweit tätige Wissenschaftler, oder des business networks aufgeworfen. Das science steering comitee entscheidet dann, welche dieser Vorschläge in Form eines Workshops aufgegriffen werden sollen. Zu diesen Workshops werden dann Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen eingeladen, um die Perspektiven dieser Fragestellungen zu diskutieren. Je nach Ergebnis der Diskussion werden einige davon in Programmen des SFI weiter verfolgt. Jährlich finden ein bis zwei Dutzend solcher Workshops statt.

Die Struktur des Instituts selbst widerspiegelt diesen interdisziplinären Ansatz. Forscher werden in der Regel für drei Jahre an das Institut berufen (full- und part-time residents, derzeit gut 40 Personen). Sie können diese Frist maximal auf sechs Jahre ausdehnen, was aber sehr selten geschieht. Post-Doktoranden erhalten in der Regel eine Anstellung für zwei Jahre. Das Interesse für diese Stellen ist gross: für die jährlich zwei Postdoc-Stellen bewerben sich in der Regel 250 bis 300 Personen. Mit den kurzen Aufenthaltszeiten will man verhindern, dass sich innerhalb des Instituts eigentliche Abteilungen bilden. Vielmehr will man eine möglichst offene, zur Kooperation animierende Atmosphäre schaffen, was auch durch die entsprechende Architektur des Gebäudes gefördert wird. Der atemberaubende Blick auf das Hochtal von Santa Fe tut sein übriges.

Popularisierung der Komplexitätsforschung

Öffentlich bekannt wurde das Santa Fe Institut durch das 1992 erschienene Buch „Complexity. The Emerging Science at the Edge of Order and Chaos” von Mitchell Waldrop. Anhand der Biographien von “frühen” Komplexitätsforschern wie John Holland („genetische Algorithmen“) Christopher Langton (“künstliches Leben”) und Stuart Kauffman wurde die Komplexitätsforschung als neue, allumfassende Wissenschaft mit grosser Zukunft präsentiert. Die ambitiöse Zielsetzung der (popularisierten) Komplexitätsforschung geriet Mitte der 90er Jahre ins Kreuzfeuer der Kritik. Den Forschern wurde insbesondere vorgehalten, durch die starke Betonung des Computers als Forschungsinstrument würden gar keine wesentlichen Erkenntnisse über die Welt gewonnen. Der Wissenschaftspublizist John Horgan fasste diese Kritik 1995 in einem Beitrag im „Scientific American“ in die Formel „From complexity to perplexity“.

Diese Kritik wurde dem Santa Fe Institut nicht wirklich gerecht. Zum einen hat sich bei den verschiedenen Workshops des Instituts bereits zu Beginn der 90er Jahre Ernüchterung etwa hinsichtlich eines universalen Komplexitätsbegriffs eingestellt. Heutzutage sprechen die Vertreter der Komplexitätsforschung denn auch lieber von „sciences of complexity“ denn von einer allumfassenden Komplexitätsforschung. Ausserdem hat die „reale Welt“ Eingang gefunden durch die Kooperation mit verschiedenen Labors, in welchen physikalische und chemische Modellsysteme für komplexe Systemdynamik untersucht werden. In den vergangenen Jahren wurden zudem verstärkt biologische Fragestellungen untersucht, so etwa Evolution als molekularer Ebene und theoretische Immunologie. Diskutiert wird derzeit auch eine intensivere Einbindung sozialwissenschaftlicher Fragen, welche mit den sich ständig verbessernden Methoden der Computermodellierung (Simulierung mittels Software-Agenten) untersucht werden können.

Nachwuchsförderung

Das Santa Fe Institut sieht sich nicht als klassisches Forschungsinstitut. Vielmehr will es Botschafter einer neuen Sichtweise der Wissenschaft sein, in welcher traditionelle disziplinäre Schranken überschritten werden können. Das Gemeinsame in den Fragestellungen verschiedenster Disziplinen soll ins Blickfeld geraten. Einen wichtigen Schwerpunkt bildet deshalb auch die Ausbildung junger Forscher, die erst am Anfang ihrer Karriere stehen. Das Instrument dazu sind die Complex Systems Summer Schools, welche seit 1988 jährlich stattfinden. Jeweils gegen 60 Doktoranden und Post-Docs der verschiedensten Disziplinen treffen sich in diesen Schulen. Insbesondere Natur- und Sozialwissenschaftler, aber auch vereinzelt Geisteswissenschaftler werden zu diesem vierwöchigen Kurs eingeladen. Vermittelt werden einerseits Grundkenntnisse in den für die Komplexitätswissenschaften wichtigen Gebieten wie Theorie dynamischer Systeme, Theorie der Berechnung oder Komplexitätstheorie. Andererseits erhalten die Forscher auch Einblick in die aktuell am Institut erforschten Fragen. Seit zwei Jahren finden solche Schulen auch in Budapest statt. Zur Diskussion steht schliesslich der Aufbau von Complex Systems Summer Schools in China, Afrika und Südamerika. Das Santa Fe Institut erweist sich damit als Schrittmacher eines interdisziplinären Ansatzes für die Erforschung komplexer Systeme.

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