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Warum waren Grüne und SVP von Abspaltungen betroffen, nicht aber CVP und FDP?

Von Markus Christen, Thomas Ott und Daniel Schwarz

Zwischen 2004 und 2008 haben zwei Ereignisse die Schweizer Parteienlandschaft nachhaltig erschüttert. Zuerst erfolgte – unter Anführung des frisch gewählten Nationalrats Martin Bäumle – die Abspaltung der GLP von den Grünen. Später kam die Spaltung der SVP hinzu, die zur Gründung der BDP führte. Beide Parteien konnten sich in der Zwischenzeit „an den Rändern der Mitte“ festsetzen und schnappen allen etablierten Parteien zwar nur wenige, in der Endabrechnung aber doch entscheidende Wähleranteile weg.

Doch warum passierte eine solche Parteispaltung ausgerechnet bei den Grünen und der SVP? Schliesslich wurde beiden Parteien eine deutlich höhere interne Geschlossenheit attestiert als etwa den Parteien der bürgerlichen Mitte. Warum hat es also nicht die CVP oder die FDP „erwischt“, welche gerne als notorisch heterogen dargestellt werden und seitens der Medien entsprechend unter Dauerbeschuss stehen?

Offensichtlich versagt hier die herkömmliche Art der Messung von parteiinterner Geschlossenheit, die meist auf die Frage fokussiert, wie unterschiedlich das Stimmverhalten der Fraktionsmitglieder im Parlament ausfällt. Damit wird bloss eine oberflächliche (Un-)Geschlossenheit gemessen, die mehr über das Ausmass an Parteiloyalität der Parlamentarier und den vorherrschenden Gruppendruck in der Fraktion aussagt als über die tiefer liegenden politischen bzw. weltanschaulichen Differenzen in der Partei.

Aus diesem Grund hat ein Forscherteam der Universitäten Zürich und Bern sowie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in einem von der Cogito Foundation unterstützten interdisziplinären Projekt eine aus der Physik inspirierte Messmethode entwickelt. Diese betrachtet die Parteigeschlossenheit aus einem neuen Blickwinkel. Bestimmt wird die sogenannte Parteikohärenz als eine zusammengesetzte Grösse aus einem Mass für die Stabilität und die Diversität von Meinungsclustern unter den Parteimitgliedern (siehe Erklärungsbox). Die beiden Dimensionen der Parteikohärenz werden in Abbildung 1 durch die horizontale (Stabilität) und die vertikale Achse (Diversität) veranschaulicht. Daraus ergeben sich vier idealtypische Zustände der parteiinternen Kohärenz: Im Quadranten unten links befinden sich Parteien, deren Mitglieder in ihren politischen Haltungen bloss lose und ohne ausgeprägten inneren Zusammenhalt gruppiert sind (tiefe Stabilität). Allerdings existieren auch kaum klar abgrenzbare Subgruppen (tiefe Diversität). Die Partei repräsentiert politische gewissermassen einen bunten Haufen; zwar kommt es hin und wieder vor, dass einzelne Parteimitglieder aus Opportunismus die Partei wechseln, doch läuft die Organisation insgesamt wenig Gefahr, dass sich daraus ein „Flächenbrand“ entwickelt und die Partei zerfällt.

Eine Partei, welche im Quadranten unten rechts situiert ist, weist demgegenüber einen starken dominierenden Meinungscluster auf, der sich selbst unter erheblichem Druck nur schwer auseinanderdividieren lässt (hohe Stabilität). Wiederum existieren kaum abgegrenzte Subgruppen (geringe Diversität), so dass der Idealtyp einer Partei mit hoher interner Kohärenz resultiert. Ganz anders ist die Situation in einer Partei, die im Quadranten oben links positioniert ist: Zwar bestehen mehrere abgrenzbare Meinungscluster (hohe Diversität), doch ist ihr innerer Zusammenhalt tief (geringe Stabilität). D.h. die Subgruppen sind in sich ebenfalls nur lose verknüpft und daher ungeeignet, um sich geeint von der „Hauptgruppe“ abzuspalten.

Die grössten Risiken einer Parteispaltung liegen gemäss diesem Modell im Bereich des Quadranten oben rechts. Eine solche Partei besteht aus klar voneinander abgegrenzten Meinungsclustern mit jeweils einem starken inneren Zusammenhalt. Diese Subgruppen bergen den Keim der Parteispaltung in sich.

Zur Untersuchung der Parteikohärenz dienten die Antworten aller Kandidierenden der fünf grossen Schweizer Parteien auf den Fragebogen der Online-Wahlhilfe „smartvote“ für die nationalen Wahlen 2003 und 2007. Wie divers und stabil sind die parteiinternen Meinungsgruppen zu zentralen politischen Fragen? Die Antwort auf diese Frage zeigt Abbildung 2. Wie zu erwarten war, befindet sich die CVP zu beiden Zeitpunkten am deutlichsten in der „Opportunismus-Zone“, d.h. die interne Kohärenz der CVP ist zwar gering, doch bildet dies eher eine Stärke als eine Gefahr in Bezug auf das Risiko einer Parteispaltung. Die FDP als die andere für ihre Heterogenität gescholtene Partei entpuppt sich 2003 als die Partei mit der grössten inneren Einheit, doch bewegte sie sich 2007 klar in Richtung „Opportunismus-Zone“. Eine Spaltungsgefahr lässt sich auch hier nicht erkennen. Die SP gilt (zusammen mit den Grünen) als die homogenste Partei im Parlament. Unsere Analyse zeigt hingegen ein überraschendes Bild, denn die Partei befand sich schon 2003 ausserhalb „Einheitszone“ und hat sich 2007 noch weiter davon wegbewegt. Somit ist das geschlossene Auftreten im Parlament möglicherweise nur aufgesetzt, ein Produkt aus Loyalität und Fraktionsdruck, eine Absage an den Individualismus zugunsten des Kollektivs. Die SP-Parteitage, an denen wie im letzten Herbst bisweilen die Fetzen fliegen, bevor sich die Reihen wieder recht dicht schliessen, sind ein Indiz dafür, dass im grossen Feld der Kandidierenden die parteiinterne Kohärenz geringer ist, als es dies aufgrund des Stimmverhaltens im Nationalrat den Anschein hat.

Ein genauerer Blick wird nun auf die beiden Parteien geworfen, welche 2004 bzw. 2008 von Spaltungen betroffen waren. Bei den Grünen liegen die beiden Erhebungszeitpunkte des smartvote-Fragebogens vor und nach der Parteispaltung. Der Unterschied ist klar: 2003 befand sich die GP noch deutlich in der „Spaltungszone“, während sie sich nach der GLP-Abspaltung im Feld der übrigen Parteien einordnet. Ähnlich die Situation bei der SVP, welche 2003 zur Spaltungszone tendierte, aber bereits 2007 – ein halbes Jahr vor der eigentlichen Abspaltung der BDP – zu grösserer innerer Einheit fand. Eine separate Analyse des breiten Kandidatenfelds und der Parteielite (d.h. der gewählten National- und Ständeräte) bringt hier etwas mehr Licht ins Dunkel.

Abbildung 3 legt den grossen Unterschied der beiden Parteispaltungen offen. 2003 rumorte es bei den Grünen vor allem an der „Basis“, während die innere Kohärenz in der Elite (d.h. den gewählten Parlamentsmitgliedern) sehr ausgeprägt vorhanden war. Die GLP-Abspaltung hat daher den Charakter einer „Spaltung von unten“: Viele Kandidierende fühlten sich offenbar von der dominierenden Weltanschauung der Parteielite nicht mehr vertreten. Interessanterweise verhält es sich 2007 genau umgekehrt: die Diversität innerhalb der GP-Elite hat stark zugenommen, während die Basis sich nun im „grünen Bereich“ befindet. Es ist hier ein gewisses Potenzial für eine „Spaltung von oben“ vorhanden – dem Szenario, mit dem sich die BDP-Abspaltung von der SVP beschreiben lässt. Zu beiden Zeitpunkten, 2003 und 2007, war das Spaltungsrisiko in der SVP-Elite weitaus grösser als im breiten Kandidatenfeld. Die Resultate zeigen aber auch, dass sich die SVP 2007 bereits auf dem Weg zur „Normalisierung“ befand. Demnach hatte die spätere BDP-Spitze 2008 gerade noch Rechtzeitig den Absprung für eine einigermassen erfolgreiche Parteigründung geschafft.


ERKLÄRUNGSBOX

Die Dimensionen der Parteikohärenz messen

Die Bestimmung der beiden Dimensionen der Parteikohärenz erfordert es, dass die Struktur der Meinungsgruppen („Cluster“) in einer Partei entdeckt und diese hinsichtlich ihres „inneren Zusammenhalts“ charakterisiert werden. Zu diesem Zweck wurde eine neue Messmethode entwickelt, die auf einer Adaption eines Algorithmus namens „Superparamagnetisches Clustering“ beruht. Dieser Algorithmus übersetzt eine Datenmenge, wie sie etwa beim Vergleich von Befragungen anfällt, in ein System kleiner Magnete und simuliert deren Wechselwirkungen. Dabei kann beobachtet werden, wie sich in einem spontanen Selbstorganisationsprozess besonders stark verbundene Magnete zu korrelierten Gruppen, eine Art Supermagnete, zusammenschliessen. Durch simuliertes Erhitzen verlieren diese Gruppen ihre magnetische Wirkung und zerfallen kaskadenartig in kleinere Bestandteile, wobei dies bei Gruppen mit einem geringeren inneren Zusammenhalt schon bei tieferen Temperaturen der Fall ist. So verraten diese „Zerfallstemperaturen“ die innere Struktur und die „Stabilität“ einer Gruppe.
Die Methode des superparamagnetischen Clusterings erlaubt einem daher in beliebigen Datenmengen sowohl Gruppen zu detektieren wie auch deren strukturellen Abhängigkeiten und Charakteristiken zu bestimmen, ohne Annahmen über die Daten machen zu müssen. Daraus lassen sich im vorliegenden Fall Kennzahlen für die Diversität und Stabilität von Meinungsgruppen innerhalb der smartvote-Daten ableiten.

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