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Depressionen: Biochemische Grundlagen

Für depressive Menschen ist die Festtagszeit oft eine zusätzliche Tortur. Doch was sind eigentlich die Ursachen von Depressionen? Forscher suchen immer mehr eine Antwort über die Untersuchung des Gehirns.

„Die Dachbalken laden zum Aufhängen ein. Die Garage ist ein Ort, um giftige Gase einzuatmen. Die Badewanne ein Gefäss, mein Blut aus den geöffneten Adern aufzufangen.“ Derart drastisch beschrieb der amerikanische Romancier William Styron seinen Gemütszustand während einer depressiven Phase. Eine solche hat eine gleichsam vernichtende Wirkung auf die eigene Lebenskraft und das Selbstwertgefühl - Selbstmordgedanken beherrschen das Denken. Solche sogenannt endogenen (von innen kommende) Depressionen sind von Gefühlen von Niedergeschlagenheit und Unlust, denen jeder Mensch in seinem Leben begegnet, zu unterscheiden (vgl. dazu Kasten „Symptome“)). Erstere betreffen nur eine Minderheit der Bevölkerung - Zahlen aus den USA sprechen von bis zu 12 Prozent der Männer und bis zu 20 Prozent der Frauen, die ein oder mehrmals eine Depression durchmachen. Natürlich stellt sich auch hier das Problem der Grenzfälle und Zahlen sind demnach immer mit einer gewissen Vorsicht zu geniessen. Dass Depressionen rein von der Anzahl der Betroffenen her gesehen keine vernachlässigbare Krankheit sind, steht jedoch fest.

Hingegen erscheint ein alter Streit über die Ursachen solcher Depressionen angesichts der fortschreitenden Erforschung von Hirn und Bewusstsein in einem neuen Licht: Psychologen und Neurobiologen streiten sich zuweilen zwar darüber, ob Depressionen durch traumatische Erlebnisse und durch Selbstvorwürfe verursacht sind oder durch biologische Vorgänge. Weitgehend durchgesetzt hat sich aber die Ansicht, dass letztlich sämtliche geistigen Vorgänge etwas mit den Vorgängen auf der materiellen Ebene - also den Prozessen im Gehirn - zu tun haben. Das bedeutet nichts anderes als eine Abkehr von Dualismus des Philosophen René Descartes, der eine strikte Trennung von Geist und Körper postuliert hat.

Doch so viel gewonnen hat man mit dieser Feststellung natürlich noch nicht. In diesem „zu tun haben“ verbirgt sich das Rätsel und trotz der gigantischen Menge an Wissen, das die Gehirnforscher in den vergangenen Jahren angesammelt haben, ist man weit entfernt von einer „materialistischen“ Erklärung des Bewusstseins - was auch damit zusammenhängt, dass Begriffe wie „Bewusstsein“ noch recht obskur sind. Doch so weit muss man nicht unbedingt gehen, um Heilerfolge für Depressive zu erzielen. Der Leitsatz, dass biochemische Veränderungen im Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) mit dem depressiven Gemützsustand einhergehen, motiviert die Suche nach Substanzen, die korrigierend in die Hirnprozesse eingreifen und die Depression damit mindern wenn nicht sogar ganz zum Verschwinden bringen.

Der Blick auf die Gene ist heutzutage ja modern - im Fall von Depressionen aber nicht unbegründet. Tatsächlich kamen einige der frühesten Hinweise auf eine biologische Komponente von Depressionen von der Genetik, indem man feststellte, dass das Leiden unter nahen Blutsverwandten gehäuft auftritt. Die Suche nach „Depressions-Genen“ verlief jedoch bisher nach schon fast 20jähriger Forschung ergebnislos. Offenbar haben auch hier eine Reihe von Erbfaktoren ihre Finger im Spiel, von welchen der Einfluss der einzelnen nur schwer abschätzbar ist.

Als erfolgreicher erwies sich bisher die Untersuchung der Kommunikation zwischen Nervenzellen. Die einzelne Nervenzelle leitet Signale in Form von elektrischen Impulsen weiter. Untereinander können die Zellen so aber nicht kommunizieren. Soll ein eletrischer Impuls einer Zelle auf eine andere übertragen werden, muss der Umweg über die Chemie gewählt werden: Die eine Nervenzelle schüttet auf ihrer Seite der Verbindungsstelle (den sogenannten Synapsen) einen Botenstoff aus, der von der anderen Zelle aufgenommen wird und dort einen neuen Impusl auslöst. Dieser ausgeklügelte Mechanismus ist Voraussetzung dafür, dass verschiedene Nervenzellen als Einheit wirken können und dass Hirntätigkeit überhaupt geschehen kann.

Dieser Mechanismus kann auf vielfältige Weise gestört werden - mit den unterschiedlichsten Folgen. Eine solche Folge können Depressionen sein, wie sich die heutigen Neurowissenschaftler überzeugt geben. Klassisch ist die in den 60ern aufgestellte These von Joseph J. Schildkraut, der die „Catecholamin-Hypothese für Gemütskrankheiten“ vorschlug. Catecholamine sind eine Klasse solcher Botenstoffe, welche die Kommunikation zwischen Nervenzellen gewährleisten. Schildkraut vertrat die Ansicht, dass eine zu geringe Konzentration dieser Stoffe Depressionen verursachen. Die ersten Antidepressiva waren denn auch solche, welche die Konzentration dieser Stoffe im Gehirn wieder erhöhten.

Die jüngste Forschung konzentriert sich aber auf einen anderen solchen Botenstoff, Serotonin genannt. Eine Reihe von Indizien sprechen dafür, dass zu geringe Konzentrationen von Serotonin mit Depressionen einhergehen. Wirkstoffe, die hier korrigeierend eingreifen, haben die Behandlung von Depressionen denn auch revolutioniert, da sie hocheffektiv sind und geringere Nebenwirkungen als ältere Medikamente haben.

Ein dritter Fokus der Depressionsforschung ist die Untersuchung des Hormonsystems. Hormone sind chemische Substanzen, die auf Vorgänge im Stoffwechsel des Körpers kontrollierend einwirken. Sie spielen beispielsweise dann eine Rolle, wenn der Organismus mit einer plötzlichen Gefahr konfrontiert wird. Dann kommt die sogenannte hormonelle Stressachse (ein Zusammenspiel von Gehirn, Hirnanhangsdrüse und Nebenniere) ins Spiel: Der Körper aktiviert die wichtigen Systeme (z.B. die Muskeln) und schaltet Unwichtiges (z.B. Fress- und Sexgier) ab. Bereits in den 60er Jahren wurde der Verdacht geäussert, dass eine überaktive Stressachse bei Depressionen eine Rolle spielt. Das Phänomen ist heute recht gut untersucht - und man kann hier auch eine Verknüpfung von äusseren und inneren Ursachen einer Depression erkennen.

Charles B. Nemeroff nennt dies das Stress-Diathese Modell. Es verbindet die Wechselwirkung zwischen belastender Erfahrungen (Stress) und Krankheitsveranlagung (Diathese). Demnach kann eine Krankheitsveranlagung dazu führen, dass die Schwelle für den Ausbruch einer Depression gesenkt wird - etwa dadurch, dass die Konzentration von Botenstoffen zu tief ist oder dass die hormonelle Stressachse empfindlicher ist als normal. Traumatische Erfahrungen haben dann ein leichteres Spiel als im Normalfall, die Vorgänge im Gehirn und Körper derart zu stören, dass eine Depression ausbricht. Dieser Ansatz zeigt auch, dass die Behandlung von Depression sich auch künftig wohl nicht auf die Gabe von Wirkstoffen allein beschränken wird.

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