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Depression – Das Herz in der hölzernen Schachtel

Die Erfahrung des existenziellen, inneren Leidens ist eine Grundkonstante des Menschseins. Sie trifft alle Menschen, wenn auch in unterschiedlichem Masse. Das Gemüt, so ein alter, aber recht treffender Begriff, ist bedrückt und Niedergeschlagenheit erfasst den Menschen. Zuweilen können sich solche Zustände aber über längere Zeiträume erstrecken und jemanden in eigentliche, existenzielle Sackgassen führen. Dann hat eine Depression vom Menschen Besitz ergriffen.

Der Begriff der Depression lässt sich nicht so einfach auf den Punkt bringen. Die Depression ist weder mit dem Gefühl tiefer Traurigkeit, noch jenem einer überwältigenden Angst gleichzusetzen. Depression ist auch nicht nur Scham, Selbstekel oder Schuldgefühl, wenn auch die Beschreibungen der Depression durch den Betroffenen durchaus von solchen Begriffen Gebrauch macht. Als erstes Charakteristika lässt sich festhalten, dass eine Depression dem Menschen den emotionalen Zugang zur inneren und äusseren Welt erschwert, wenn nicht gar versperrt. Dadurch werden sämtliche Lebensvollzüge wie von einem bleiernen Mantel umhüllt. Selbst einfachste Verrichtungen wie Körperpflege, Essen oder Telefonieren werden zur Qual. Der Wiener Psychiater Hans Lenz hat Depression einmal als „Krankheit der Losigkeiten“ bezeichnet – Depressive erfahren sich als interesselos, gefühllos, konzentrationslos. In einem afrikanischen Stamm wird die depressive Verstimmtheit umschrieben mit dem Ausdruck „Mein Herz ist in einer hölzernen Schachtel“.

Depression ist eine der häufigsten psychischen Krankheiten weltweit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte anlässlich des Weltgesundheitstages im Jahr 2001 prognostiziert, dass etwa im Jahr 2010 Depression die häufigste psychische Krankheit weltweit sein dürfte. Aufgrund Untersuchungen aus verschiedenen Ländern schätzt die WHO, dass derzeit rund 17 Prozent der Bevölkerung zumindest einmal im Leben eine depressive Episode erlebt. Auch in der Schweiz zeigt sich ein entsprechendes Bild: Hinsichtlich der Diagnosen psychischer Erkrankungen steht Depression bei Männern an vierter Stelle, bei Frauen an erster Stelle. Psychiatrische Kliniken beklagen eine starke Zunahme an Einweisungen, wobei Depressionen eine prominente Rolle spielen.

Zur Diagnose der Depression

Die Depression gehört wohl zu den am intensivsten untersuchten psychischen Erkrankungen der vergangenen dreissig Jahre, wobei verschiedene Anstrengungen zur Klassifizierung und Diagnose von Depression unternommen wurden. Gemäss der klassischen Sichtweise können Depressionen symptomatisch (exogen) sein, also als Folge anderer Krankheiten auftreten, oder als depressives Syndrom die eigentliche Erkrankung darstellen. Beim depressiven Syndrom wiederum unterschied man früher die depressive Persönlichkeit (eine milde Variante), die reaktive Depression (als Folge traumatischer Erlebnisse) und die endogene Depression. Bei der endogenen Depression wiederum wurden unipolare und bipolare Formen (manisch-depressive Erkrankungen) unterschieden. Diese Unterscheidungen sind heute revidiert worden. Man kategorisiert Depressionen nicht mehr aufgrund vermuteter Ursachen (wie reaktiv oder endogen), sondern aufgrund der deskriptiven Psychopathologie in die zwei Hauptgruppen depressive Episode (major depression) und depressive Anpassungsstörung. Die amerikanische psychiatrische Vereinigung (APA) hat ein detailliertes Schema an Symptomen erarbeitet, das heute für die Diagnose von Depression verwendet wird. So müssen zum Beispiel mindestens fünf der folgenden Symptome über einem Zeitraum von mehr als zwei Wochen fast täglich auftreten, damit eine Depression diagnostiziert wird: gedrückte Stimmung, Interesselosigkeit, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit oder übersteigertes Schlafbedürfnis, Antriebslosigkeit, geringes Selbstwertgefühl, Unentschlossenheit und wiederkehrende Suizidgedanken.

Die neuere Forschung hat sich vermehrt auf den neurobiologischen Hintergrund der Depression konzentriert. In Zentrum stehen die Fragen wie: Welche Hirnfunktionen ändern sich bei depressiven Erkrankungen? Was sind die molekularbiologischen Grundlagen dieser Änderungen? Gibt es eine genetische Grundlage für Depression? Damit ist eine klare Veränderung des Fokus feststellbar, weg von der eher psychiatrisch orientierten und hin zu einer naturwissenschaftlichen Sichtweise des Problems.

Hirnkrankheit oder Seelenkrankheit?

Unzweifelhaft hat die Hirnforschung bisher eine Reihe wichtiger Erkenntnisse zur Depression gewonnen. So ist offenbar eine Fehlfunktion in der so genannten „Stressachse“ des Gehirns eine wichtige Komponente depressiver Erkrankungen. Die Stressachse reguliert die Reaktion des Körpers auf verschiedene, als Belastung und Spannung empfundene Umwelteinflüsse. Es handelt sich dabei um einen komplizierten, hormonellen Regelmechanismus, bei welchem das Hormon Cortisol eine wichtige Rolle spielt. Depression geht mit einer überaktiven Stressachse einher, was sich durch einen erhöhten Cortisolspiegel zeigt. Die modernen bildgebenden Verfahren der Hirnforschung haben weiteren Aufschluss über die bei Depression involvierten Bereiche des Gehirns gegeben. So sind unter anderem anatomische und funktionelle Veränderungen im präfrontalen Kortex, dem Hippocampus und dem Mandelkern (Amygdala) feststellbar. Es ist aber heute noch unklar, ob diese Veränderung der Ausbildung einer Depression vorausgehen, sie begleiten oder quasi als Folge anderer Ursachen entstehen. Schliesslich können Depressionen auch ganz andere Ursachen habe – etwa die Verkalkung von Hirnarterien. Solche „vaskuläre Ursachen“ könnten insbesondere bei Altersdepressionen auftreten.

Die naturwissenschaftliche Perspektive auf die Depression hat auch einen wichtigen Einfluss auf die Beurteilung der Freitodhilfe im Fall Depressiver. Entsprechende Vorkommnisse Ende der 1990er Jahre, als Exit-Angehörige Sterbebegleitung bei Psychiatriepatienten durchgeführt haben , sind damals auf grossen öffentlichen Widerstand gestossen. Aus medizinisch-naturwissenschaftlicher Sicht ist die Möglichkeit zwar gegeben, dass Depressionen irreversible Veränderungen des Gehirns auslösen könnten. Diese könnten einen Menschen dauerhaft in einen depressiven Zustand versetzen, der das Leben aus Sicht dieser Betroffener nicht mehr lebenswert macht. Tatsache ist aber auch, dass gesicherte Erkenntnisse dazu nicht vorliegen und heute eine Vielzahl therapeutischer Massnahmen bei Depression vorhanden ist.

So ist als Folge der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse eine Reihe von Psychopharmaka entwickelt worden, die bei der Behandlung von Depression routinemässig zum Einsatz kommen. Die Erfolge dieser medikamentösen Therapie haben aber zur Folge, dass die Gefahr einer zu engen Sichtweise auf das Problem entsteht und die seelischen Komponenten dieser Krankheit verloren gehen (siehe dazu den nachfolgenden Beitrag von Daniel Hell). Depression geht immer auch mit einem inneren Erleben durch den Patienten oder die Patientin einher. Dieses Erleben kann Depression im Sinn eines eigentlichen Teufelskreises am Leben erhalten, wenn nicht gar fördern. Sicher könnte man vom materialistischen Standpunkt einwerfen, dass auch dieses innere Erleben letztlich eine neurophysiologische Grundlage hat. Doch von einer auch nur annähernd gültigen Erklärung der Ideen- und Erfahrungswelt eines jeden Einzelnen auf Ebene von Gehirnvorgängen ist man heute meilenweit entfernt. Es gibt auch gute Gründe zur Annahme, dass eine solche Erklärung, falls sie überhaupt möglich ist, derart komplex sein dürfte, dass sie keine Handhabe zur Hilfe an Depressiven bietet.

Ein integratives Modell

Auch die Ursachen einer Depression können in der Regeln nicht auf rein körperliche Aspekte zurückgeführt werden. Das integrative Modell von Daniel Hell von der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich unterscheidet Risikofaktoren, Auslösefaktoren und nachfolgende Einflüsse. Als Risikofaktoren gelten genetische Anlagen und biografische Erfahrungen (wie Mangel- und Spannungssituationen in der Kindheit), welche gewissermassen die Disposition zur Depression festlegen können – ohne dass aber die Krankheit wirklich ausbrechen muss. Als Auslösefaktoren gelten vor allem soziale Belastungssituationen (z.B. im Beruf), emotionale Mangelzustände (wie z.B. Einsamkeit) und Verluste. Aber auch körperliche Erkrankungen oder therapeutische Eingriffe (wie z.B. Cortisontherapie) können Depressionen hervorrufen. Als nachfolgende Einflüsse schliesslich gelten Rückkopplungsmechanismen: Depression vermindert die positive Selbstwahrnehmung, diese erschwert das Handeln in der Welt, diese führt zu Stress, was wiederum körperliche Auswirkungen hat und damit die Depression verstärkt.

Die Behandlung der Depression wird deshalb auch künftig sowohl die medikamentöse wie die psychologische Komponente beinhalten, da man an verschiedenen Orten dieses Teufelskreises eingreifen kann. Man könnte das Behandlungskonzept so zusammenfassen, dass – im Fall einer schweren Depression – Medikamente dem Betroffenen erst einmal die Möglichkeit geben, sich überhaupt mit seiner Depression auseinanderzusetzen. Je nach Fall können nachher eine Reihe psychotherapeutischer Möglichkeiten zum Einsatz kommen. Bei gewissen Formen von Depression ist es aber auch möglich, dass der Betroffene lebenslang Medikamente einnehmen sollte, um einem erneuten depressiven Schub auszuweichen. Neuere Therapiekonzepte schlagen vor, das Nervensystem mittels Implantaten zu beeinflussen und damit die Hirnaktivität zu beeinflussen. Ein Kandidat dafür ist die Stimulation des Vagusnerv.

Soziale Komponenten

Unabhängig von den therapeutischen Aspekten der Depression gilt es auch eine Reihe sozialer Komponenten zu berücksichtigen, welche die Wahrnehmung der Depression beeinflussen. So gibt es deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Statistiken zeigen regelmässig, dass Frauen etwa doppelt so häufig von Depression betroffen sind wie Männer. Es ist aber auch bekannt, dass zwischen Suizidgefahr und Depression ein enger Zusammenhang herrscht. Insofern erscheint es paradox, dass Frauen doppelt so häufig von Depression betroffen sein sollen, die Suizidrate bei Männern aber doppelt bis achtfach (je nach Staat) höher ist. Dies hat zum einen damit zu tun, dass Männer in der Regel drastischere (und damit „erfolgreichere“) Methoden zur Selbsttötung verwenden wie Schusswaffen statt Medikamente. Andererseits wird vermutet, dass sich Depression bei Männern untypisch äussert, so dass die Forschung begonnen hat, das Konzept einer „männlichen Depression“ zu entwickeln.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Altersdepression. Diese besitzt in der öffentlichen Wahrnehmung einen anderen Stellenwert, da Alter gemeinhin mit Verlusterfahrungen verbunden ist und man gewissermassen davon ausgeht, dass man im Alter die Lebenslust verliert. Statistische Untersuchungen zeigen aber deutlich, dass die Lebenszufriedenheit mit steigendem Alter zunimmt und demnach dieses Bild nicht stimmt. Altersdepressionen werden deshalb oft nicht erkannt und entsprechend selten behandelt.

Insgesamt zeigt sich also, dass Depression eine der häufigsten psychischen Störungen überhaupt darstellt. Im Bereich der medikamentösen Behandlung der Depression wurden zwar beeindruckende Fortschritte erzielt. Damit wächst aber die Gefahr, dass der gleichsam „seelische Aspekt“ dieser Krankheit zu stark aus dem Blickfeld gerät. Dies wird verstärkt durch die steigenden Patientenzahlen in den psychiatrischen Kliniken und die damit verbundenen sinkenden Betreuungsmöglichkeiten. Hier gilt es, ein auf den individuellen Fall abgestimmtes Gleichgewicht zwischen medikamentöser und psychiatrisch orientierter Therapie zu finden.

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