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Notfälle und Katastrophen: wenn Medizin an ihre Grenzen gerät

Extreme Ereignisse für einzelne Personen wie für ganze Gemeinschaften – Unfälle, akut lebensbedrohende Situationen und Katastrophen – stellen besondere Herausforderungen an die Medizin. Die Notfallmedizin, welche sich solchen Problemen stellt, gehört zwar zu den ältesten Bereichen der Heilkunden, ein organisiertes Rettungswesen ist allerdings erst ab dem Ende des 19. Jahrhundert in verschiedenen europäischen und nordamerikanischen Staaten aufgebaut worden. Oft waren es Kriege oder zivile Grosskatastrophen, welche dazu den Anlass gegeben haben. Heute steht die Notfall- und Katastrophenmedizin unter zweifachem Druck: Sparbemühungen können das dichte Rettungsnetz vorab in den westlichen Staaten beeinträchtigen, während die neuen Formen des Terrorismus, der vorab zivile Ziele fokussiert, eine neue Herausforderungen für die Notfallmedizin darstellt.

Die ersten historischen Wurzeln der Notfallmedizin finden sich bereits im Mittelalter. Kriege und die Pest lieferten Anlass für den Aufbau von Institutionen für den medizinischen Notfall. Die verschiedenen Pest-Epidemien – vor allem die grosse Pestepidemie des 14. Jahrhunderts, der ein Drittel der Gesamtbevölkerung Europas zum Opfer fiel – haben in verschiedenen Städten Europas zum Aufbau von medizinischen Strukturen geführt. Diese dienten aber vorab der Berichterstattung über Krankheits- und Todesfälle und der Isolation der Betroffenen – also nicht der eigentlichen Heilung der Patienten. Um 1500 gründete der Habsburger Kaiser Maximilian I ein Heeressanitätswesens, dessen Aufgabe es war, schon während des Kampfes Verwundete so schnell wie möglich in Schubkarren und Sänften vom Schlachtfeld in Sicherheit zu bringen, damit zugleich mit der Behandlung begonnen werden konnte. In ziviler Hinsicht erwies sich das grosse Feuer in London von 1666 – das vier Fünftel der Stadt in Schutt und Asche legte, aber kaum Menschenleben forderte – als wichtiges Ereignis in der Geschichte der organisierten Reaktion auf Katastrophen, indem beispielsweise die ersten Feuerwehren gegründet wurden. Im achtzehnten Jahrhundert wurden dann in Amsterdam (1767) die erste Rettungsgesellschaft gegründet. 1769 wurde die erste deutsche Rettungsgesellschaft gegründet, die sich der im Wasser verunglückten Menschen annahm und Rettungshäuser entlang der Flussläufe errichten liess. Einige der damals vorgesehenen Massnahmen waren aber vom heutigen Standpunkt doch recht seltsam – so war beispielsweise in jedem Rettungshaus ein Blasebalg zum Einblasen von Tabakrauch in den Anus vorhanden.

Das Prinzip der Sofortbehandlung

Eine eigentliche Notfallmedizin bildete sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus. Eine wichtige Person war der Leibarzt von Napoleon Bonaparte, Baron Dominique Jean Larrey (1766-1842). Aufgrund seiner im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gewonnenen Erfahrungen baute er um 1803 das Prinzip der Sofortbehandlung aus, indem er unmittelbar hinter der Feuerlinie Operationen durchführte. Hier konnten noch im Schock – also für den Betroffenen verhältnismässig schmerzfrei und ohne grosse Blutungen – innerhalb von wenigen Minuten Amputationen durchgeführt werden, um so dem Wundbrand zu begegnen. Auch führte Larrey das System der modernen Triage ein, wobei die betroffenen unabhängig vom militärischen Rang – eine revolutionäre Neuerung für die damalige Zeit – ihren vermuteten Überlebenschancen gemäss behandelt wurden. Diese Massnahmen hatten Erfolg, indem etwa die Überlebensrate verwundeter französischer Soldaten über jener der gegnerischen Truppen lag. Wie historische Untersuchungen gezeigt haben, waren es vorab solche medizinische, logistische und ernährungstechnische Gründe, welche den französischen Truppen zur Zeit der napoleonischen Kriege ihre Stärke gab; und nicht etwas zahlenmässige oder waffentechnologische Überlegenheit.

In Deutschland wurden im gleichen Zeitraum eine Reihe von Massnahmen für die Personenrettung ausserhalb kriegerischer Auseinandersetzungen eingeführt. So erliess beispielsweise Franz II von Sachsen 1799 eine Verordnung, wonach kein Arzt approbiert werden sollte, der nicht Kenntnisse in den Methoden der Lebensrettung nachweisen konnte. In einer Reihe von Städten entstanden Rettungsgesellschaften, wobei aber historische Quellen zeigen, dass die dort beschäftigten Personen nicht über alle Zweifel erhaben waren. So schrieb der Mediziner Tiefenbach 1832 in seinem Lehrbuch „Anleitung zur Krankenwartung“ im Vorwort: „Es ist ein wahrer Jammer anzusehen, welche Menschen man als Krankenwärter in den Hospitälern anstellt. Jeder Alte, Versoffene, Tiefäugige, Taube, Lahme, Krumme, Abgelebte, jeder, der zu nichts in der Welt taugt, ist nach Meinung der Verantwortlichen zum Wärter geeignet.“

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgten weitere wichtige organisatorische Schritte, welche für die Notfallmedizin bedeutsam wurden: 1863 wurde das Rote Kreuz gegründet – erneut als Folge eines traumatischen Erlebnisses, der Schlacht von Solferino zwischen österreichischen Truppen und Einheiten einer französisch-sardischen Allianz. Im England wurde 1877 die St. Johns Ambulance Association gegründet – einer Organisation, dem auch die Schaffung des Begriffs „Erste Hilfe“ (first aid) zugeschrieben wird. Die Feuerkatastrophe im Wiener Ringtheater von 1881, der zwischen 350 und 450 Menschen zum Opfer fielen, führte zur Gründung des deutschen Samaritervereins. Dieser Verein führte Erste-Hilfe-Kurse und Ausbildungen für Freiwillige für den Dienst im Rettungswesen durch und stellte den Rettungsdienst unter ärztlicher Aufsicht.

Aufbau des modernen Rettungswesens

Weitere wesentliche Impulse für den Aufbau des modernen Rettungswesens erfolgten in Europa nach dem Zweiten Weltkriegs. Erneut war ein „aussermedizinischer“ Grund ausschlaggebend: der rasant zunehmende Verkehr und die in der Folge steigende Zahl an Verkehrstoten. In Deutschland beispielsweise erreichte die Zahl der Verkehrstoten 1971 einen Höchststand mit über 21'000 Toten (im Jahr 2003 waren es zum Vergleich noch etwas über 6600 Menschen – und das bei einem weit grösseren Verkehrsaufkommen), wobei vorab junge, voll im Erwerbsleben stehende Menschen betroffen waren. Verkehrsunfälle hatten damals also – noch in einem weit grösseren Ausmass als heute – beachtliche soziale und wirtschaftliche Folgen. Bereits Ende der 1950er Jahre wurden in Deutschland, oft gegen viele Widerstände, erste Krankenautos „Marke Eigenbau“ eingesetzt, bis dann 1967 eine Norm zur Ersetzung der bisherigen Rettungswagen durch standardisierte Fahrzeuge eingesetzt wurde. Das ursprüngliche Prinzip, Verletzte so rasch als möglich in die Krankenhäuser zu verfrachten wurde dabei nach und nach von der Idee einer medizinischen Notfallbetreuung vor Ort abgelöst. Im gleichen Zeitraum wurde auch das Konzept der „Rettungskette“ entwickelt. Vor diesem Hintergrund hat sich auch die Zusammensetzung der Fachrichtungen der Notärzte geändert. Zunehmend waren es Anästhesisten, welche den Notarztdienst besetzten.

Auch die organisatorische Betreuung von Grosskatastrophen wurde an die Hand genommen. Es entstanden Lehrstühle für Katastrophenmedizin – zunächst in Schweden, in den 1970er Jahren dann auch in der Schweiz zuerst in Basel. Verheerende Brände in Südkalifornien führten zum Aufbau des weltweit ersten Incident Command System – ein wichtiger Schritt für die Standardisierung des Managements ziviler Grosskatastrophen und Vorbild für ausländische Organisationen. In den Industriestaaten erfolgte in den Folgejahren der Aufbau eines immer dichteren Rettungsnetzes. Dieses erreicht heute eine beeindruckende Effizienz. In Deutschland werden derzeit etwa 80 Prozent der Unfälle in bis zu zehn Minuten nach der Alarmierung erreicht, in der Schweiz dauert dies mit 15 Minuten etwas länger, was auch mit der Topologie des Landes zusammenhängt. Trotz dieser im internationalen Vergleich guten Werte werden gerade in der Schweiz zuweilen das Fehlen einer übergeordneten Gesetzgebung auf Bundesebene sowie die Doppelbelastung der Anästhesisten im Spital und Rettungsdienst kritisiert (Meier et al. 2003). Auch zeigen Untersuchungen über den Entscheidungsmechanismus in Notfallsituationen eine grosse individuelle Bandbreite bei vergleichbaren Fällen. Dies wird als Unsicherheit hinsichtlich der anzuwendenden Kriterien bei Notfallentscheiden gewertet. Resultate aus Deutschland zeigen denn auch teilweise gravierende Mängel in der notärztlichen Versorgung. So wurde beispielsweise eine präklinisch initiierte Beatmung in 16 bis 37 Prozent der Fälle als inadäquat eingestuft (Gries et al. 2003).

Terrorismus und andere neue Herausforderungen

Ein Blick auf die aktuelle medizinische Literatur zum Thema Notfall und Katastrophenmedizin zeigt neue Trends auf. Zum einen zeigt sich im Nachgang der Attentate vom 11. September 2001 ein verstärktes Interesse an den Folgen terroristischer Anschläge. Dabei ergeben sich zuweilen überraschende Ergebnisse: so sind in den USA im Zeitraum 1992 bis 2002 weit mehr Menschen an Bombenanschlägen innerhalb der USA gestorben als US-Bürger bei terroristischen Anschlägen ausserhalb der USA (die 9/11-Ereignisse sind hier nicht mitgezählt worden). Eine Statistik der Swiss Re Rückversicherung (in Weidringer et al. 2004) zeigt einen markanten Anstieg von man-made-Katastrophen seit 1985 (unter 100 pro Jahr vor 1985 vs. gegen 250 pro Jahr nach 2000), was den verstärkten Fokus auf den Bereich „Terrorismus“ verständlich macht. In der Schweiz wurden aus diesen Gründen am 14. September 2001 das Projekt Schweizerische Integrierte Akademie für Militär- und Katastrophenmedizin (SAMK) initiiert. Das Projekt betreibt zur Zeit in der Form eines Netzwerkes fünf primäre und vier sekundäre Fachzentren für die Fachrichtungen der Militär- und Katastrophenmedizin.

Hinsichtlich der „normalen“ Notfallmedizin zeigen Untersuchungen in Deutschland (Gries et al. 2003) eine zweifache Herausforderung: Zum einen hat sich die Zahl der Einsätze stark erhöht – in Deutschland hat sich diese Zahl im Zeitraum 1985 bis 1999 mehr als verdoppelt – wobei bei aber immer mehr Einsätzen gar kein Notfall vorliegt (in Deutschland soll dies bei derzeit 30 bis 40 Prozent aller Einsätze der Fall sein). Die Beanspruchung des Systems steigt also. Zum anderen steigt der Spardruck auch auf diesen Bereich des Gesundheitswesens. Wie dem genau begegnet werden soll, ist unklar. In der angesprochenen deutschen Studie wird vorgeschlagen, dass die Dichte des Rettungsnetzes durchaus etwas abnehmen könne, wenn dafür aber im Gegenzug die fachliche Qualität der involvierten Personen erhöht werden könne. Ob dies auch in der Schweiz angestrebt werden soll, ist eine offene Frage.

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