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Medizintechnik als Thema der Ethik?

Die Frage scheint zu allgemein gestellt: Kann man an ein derart breites Gebiet wie die Medizintechnik spezifische ethische Fragen knüpfen? Dies kann man, wenn man „spezifisch“ nicht als „neu“ versteht; also nicht meint, dass es ethische Probleme gibt, die ausschliesslich in der Medizintechnik eine Rolle spielen. Und zudem muss eine ethische Analyse der Medizintechnik zuerst dieses weite Feld etwas strukturieren, um die ethischen „hot spots“ zu identifizieren.

Wie bereits der Hauptartikel dargelegt hat, ist die Medizintechnik in der Schweiz ein breit aufgestelltes und ökonomisch überaus erfolgreiches Unterfangen. Mit Blick auf die Produkte kann man dieses in vier Hauptgruppen unterteilen: Erstens: technische Hilfen im und am Körper (Implantate, Prothesen, Hörgeräte etc.); zweitens: Geräte, Apparate und Instrumente für medizinische Aktivitäten (Diagnostikgeräte, Apparate für bildgebende Verfahren etc.); drittens: Verbrauchsmaterialien (z.B. Spritzen, Reagenzien für Diagnostik etc.); viertens: Dienstleistungen und Software. Die vierte Gruppe steht dabei in unscharfer Abgrenzung zu einem ebenfalls breiten, „eHealth“ genannten Gebiet (siehe TiF 61, 2005), wo es um die umfassende Informatisierung medizinischer Abläufe geht – Stichworte dazu sind die elektronische Patientenakte, Telemedizin und dergleichen. Dieses Gebiet stellt gesonderte ethische Fragen wie z.B. Datenschutz und soll hier nicht weiter besprochen werden.

Nebst dieser fachlichen Gliederung der Medizintechnik lassen sich auch die ethischen Fragen wie folgt gruppieren: Zum einen sind viele medizintechnische Anwendungen „Ermöglichkeitsbedingungen“ für zahlreiche, kontrovers diskutierte ethische Fragen; d.h. ohne das Vorhandensein entsprechender Gerätschaften gäbe es gewisse Forschungs- und Anwendungsbereiche gar nicht. Die meisten heutigen Themen der Medizinethik wie Stammzellen, Hirntodkriterium oder genetische Diagnostik beruhen massgeblich auf der Existenz moderner Gerätschaften. Der ethische Kern der Frage ist aber nicht an diese technischen Systeme gebunden. So braucht es beispielsweise eine ausgefeilte Analytik, um herauszufinden, ob jemand eine gewisse Prädisposition für eine unheilbare Krankheit hat, und die technischen Spezifika dieser Verfahren (z.B. Nachweisgenauigkeit) spielen bei der ethischen Beurteilung zwar eine Rolle. Doch der ethische Kern des Problems, wie eine Person mit dem Wissen umgehen soll, von einer nichtheilbaren Krankheit betroffen zu sein, ist nicht von der konkreten Methode des Nachweises abhängig. Entsprechend ist es nicht zielführend, solche Fragen generell unter dem Label „Medizintechnik“ zu diskutieren, sondern man gruppiert sie anhand der konkreten Anwendungen wie eben beispielsweise Stammzellmedizin, genetische Diagnostik oder Transplantationsmedizin.

Zum anderen sind bestimmte Anwendungsformen von Medizintechnik mit konkreten ethischen Fragen verbunden, die sich direkt aus dem Gebrauch dieser Gerätschaften ergeben. dabei sind insbesondere drei Aspekte bedeutsam:

  • Umgang mit Mängeln und Fehlern: Kein Produktionsprozess ist perfekt und entsprechend ist die Sicherung der Qualität und der Umgang mit Fehlern ein ethisches Erfordernis erster Güte. Bei Produkten, die direkt auf das Wohlbefinden von Patienten einwirken und bei Versagen mitunter tödliche Auswirkungen haben können (z.B. Herzschrittmacher) stellt sich diese Forderung natürlich verschärft. Ebenso wie bei pharmakologischen Produkten (erinnert sei z.B. an den Contergan-Skandal in den 1960er-Jahren) finden sich auch bei medizintechnischen Produkten im historischen Rückblick Probleme. So haben Schmiermittel-Verunreinigungen bei der Produktion von Hüftgelenken des Produzenten Sulzer Medica bei zahlreichen Patienten das Einwachsen des Implantats verhindert. Milliardenschwere Sammelklagen waren die Folge und die Reputation des (heute nicht mehr existierenden) Unternehmens war zerstört. Das Beispiel zeigt, dass natürlich auch auf Seiten der Produzenten starke Anreize bestehen, die Qualität der eigenen Produkte zu sichern. Doch dieses Bemühen sollte sich nicht nur auf die Produkte selbst fokussieren, sondern auch auf die Prozesse rund um deren Anwendung im klinischen Kontext. So sollten beispielsweise Informationen über Fehlanwendungen oder Schwierigkeiten bei operativen Eingriffen (im Fall von Implantaten) systematisch gesammelt werden, um die „Fehlerkultur“ (also die Etablierung eines systematischen Prozesses, um aus Fehlern lernen zu können) zu verbessern.

  • Umgang mit nicht erwarteten Nebeneffekten: Qualitätssicherung und Aufbau einer Fehlerkultur ist sicher auch das auf Produzentenseite am meisten akzeptierte ethische Erfordernis an medizintechnische Produkte. Schwieriger dürfte der Umgang mit nicht erwarteten Nebeneffekten sein – auch deshalb, weil diese teilweise gar nicht im Einflussbereich der Produzenten liegen. So hat beispielsweise die Entwicklung von Cochlea-Implantaten zu einer unerwarteten Reaktion der Gehörlosen-Gemeinschaft geführt, die durch diese Geräte – und insbesondere den Wunsch, sie taub geborenen Kindern möglichst früh zu implantieren – ihre „Gehörlosen-Kultur“ bedroht sehen. Andere Systeme wie Stimulatoren für die Tiefe Hirnstimulation (siehe dazu TiF Nr. 94, 2010) können bei Patienten zu nichtintendierten Nebeneffekten, z.B. hypomanischen Zuständen führen, die in ethischer Hinsicht nicht einfach zu beurteilen sind. Gewiss wäre es falsch, die Verantwortung für solche nicht erwarteten Nebeneffekte einfach den Produzenten zu überlassen; zu komplex ist das Wirkungsgefüge und zu wichtig ist auch die Rolle der Anwender (also der Ärzteschaft). Und auch die ethische Beurteilung solcher Effekte ist keineswegs unkontrovers. So gibt es z.B. Ethiker, die ein Vorenthalten eines Cochlea-Implantats bei einem taub geborenen Kind als klar falsch beurteilen und es für ein Erfordernis halten, gegen den Willen der Eltern eine solche Implantierung vorzunehmen. Dennoch braucht es auch von Produzentenseite eine gewisse Sensibilität für schwer voraussehbare Folgen der eigenen Produkte, was sich beispielsweise in der Förderung entsprechender Forschungen oder in den Informationsbroschüren über entsprechende Produkte (z.B. für Fachpersonen) niederschlagen kann.

  • Kostenfragen: Auch die Medizintechnik trägt zur Kostensteigerung des Gesundheitswesens bei und entsprechend ist sie auch von den ethischen Fragen betroffen, die diese Kostensteigerung mit sich bringt. Die damit verbundenen Abwägungen sind aber notorisch schwierig, weil nur in wenigen Fällen die Kausalitäten klar erkennbar sind (also führt ein Produkt X klarerweise zu einer Erhöhung oder Verminderung der Gesundheitskosten). Und selbst dann können sich institutionelle Hindernisse ergeben, wie das Beispiel im Hauptartikel zeigt, wo ein klar besseres Produkt (Herzklappen, die minimalinvasiv implantiert werden können) sowohl hinsichtlich Patientennutzen als auch Kosteneffektivität dennoch nur „rationiert“ zum Einsatz kommt, weil die gängige Finanzierungsstruktur durch die Krankenkassen diese Herzklappen derzeit nicht umfasst. Ein Bereich, in dem sich ein klar erkennbares Kostenproblem stellt, ist die medizinische Bildgebung, die auf teilweise sehr teuren Geräten beruht, die im Zug des Wettbewerbs zwischen den Spitälern dennoch immer mehr angeschafft werden. Ein Anreiz für die Gerätehersteller, diese Situation zu verändern, besteht natürlich kaum – doch diese müssen sich bewusst sein, dass auch sie zunehmend in den Fokus von Kostenüberlegungen geraten. Ergebnis können „Schnellschüsse“ mit möglicherweise unerwünschten Effekten sein. Die Medizintechnik-Branche darf sich aber nicht darauf verlassen, dass die Kostendebatte wie bis anhin vorab Medikamente und den stationären Spitalbereich betreffen wird. Und sie muss zunehmend auch Verteilungsfragen berücksichtigen, denn je ausgefeilter und damit auch teurer bestimmte medizintechnische Systeme werden, desto mehr wächst der Druck, dass diese Gegenstand einer „Rationierung“ werden dürften, d.h. es stellt sich die Frage, ob jeder Patient ein bestimmtes System erhalten darf oder nicht. Je reglementierter das Gesundheitssystem wird, desto weniger dürften solche Entscheide in einem Markt fallen, der ja derzeit noch für nicht wenige medizintechnische Produkte massgebend ist.

Die genannte Klassifizierung liefert natürlich keine Rezepte zur Beurteilung konkreter Fragen. Dazu ist die Produktpalette der Medizintechnik schlicht zu breit. Doch die Medizintechnik muss sich bewusst sein, dass ihre Produkte je länger je weniger als schlichte „Instrumente“ wahrgenommen werden, für deren ethische Effekte rein nur der Anwender (also in der Regel die Ärzteschaft) Verantwortung trägt.
 

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