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Gibt es eine Ethik des Zeitmanagements?

Menschliches Handeln geschieht in der Zeit. Diese gleichermassen triviale wie fundamentale Einsicht begleitet jegliche ethische Analyse, ob ein bestimmtes Handeln als gerechtfertigt oder „gut“ angesehen werden kann quasi im Hintergrund. Eine solche Analyse geht optimalerweise – das gehört fast schon zum Selbstverständnis der Philosophie – in Musse und möglichst frei von Zeitdruck von sich. Oberflächlich betrachtet wird der Hinweis auf die Zeit so zu einem Unterscheidungsmerkmal zwischen dem ethischen Grübeln des Philosophen, entrückt von den Zwängen der Zeit, und dem Handeln im praktischen Alltag, wo einem der Termindruck immer mehr im Nacken sitzt. In dieser klischeehaften Unterscheidung wird „Zeit“ zur Begründung (oder zur Ausrede) dafür, weshalb man bestimmte Dinge nicht mit der ethisch gebotenen Sorgfalt getan hat – und es schwingt zuweilen der Vorwurf mit, dass man „schön reden könne“, wenn man, enthoben von den Zwängen den Alltags, diesen quasi „moralisierend“ kommentiert.

Implizite Zeit und Zeitwahrnehmung

Doch der Zusammenhang zwischen Ethik und Zeit ist komplexer, als dieses Klischee darstellt. So soll in diesem kurzen Beitrag die Bedeutung der Zeit im ethischen Handeln und Begründen übersichtsartig dargestellt werden. Da (ethisches) Handeln eine zutiefst praktische Tätigkeit ist, spielt die Wahrnehmung der Zeit während dieses Tuns eine zentrale Rolle. Hier gilt es, zwischen einer impliziten und expliziten Wahrnehmung von Zeit zu unterscheiden. Erstere meint hier das Handeln in der Zeit, ohne dass einem der Zeitfluss konkret bewusst ist. Jeder Mensch kennt das Gefühl, dass die Zeit je nach Tätigkeit oder Geisteszustand unterschiedlich rasch vergeht, was einem aber erst später in einem Akt der bewussten Wahrnehmung klar wird.

Psychologie und Hirnforschung untersuchen seit langem die Unterschiede und deren Ursachen zwischen der subjektiven Zeitwahrnehmung und dem (objektiven) Ablauf der Zeit. Die Physik lehrt uns gar, dass selbst der „objektive“ Fluss der Zeit eine Grösse ist, die sich relativ zum jeweiligen Bezugssystem verhält. Für eine „Ethik der Zeit“ spielt diese implizite Zeit aber eine geringere Rolle und soll hier deshalb auch nicht weiter untersucht werden.

Explizite Zeit

Anders sieht die Sache aus, wenn Zeit explizit zum Thema wird, also einem quasi bewusst wird. Hier sind zwei Situationen grundlegend zu unterscheiden. Zum einen kann es um einen bestimmten Zeitpunkt gehen, indem etwa bis kommenden Freitag etwas Bestimmtes entschieden oder getan werden muss. Solche Zeitpunkte können in ethischen Entscheidungsprozessen als Orientierungsgrössen oder als Druckkomponente wirken. Welche Rolle dominiert, hängt von zahlreichen individuellen Faktoren ab: beispielsweise von der zur Verfügung stehenden Zeit bis zur Entscheidung, von den Aktivitäten, die für die Handlung notwendig sind und natürlich auch von der Prognostizierbarkeit des Auftretens solcher Zeitpunkte.

Zum anderen kann Zeit quasi dauernd expliziert werden, etwa durch ein Reporting von Prozessabläufen oder auch durch ein kontinuierliches Überwachen von Prozessen (von aussen) zwecks Steuerung und langfristiger Planung. In vielen Bereichen der produzierenden Industrie sind solche Explizierungen von Zeit zur Selbstverständlichkeit geworden. Doch auch in Organisationen, in denen vorab menschliche Entscheidungen die Prozesse bestimmen, nehmen solche Formen der dauernden Explizierung von Zeit aus unterschiedlichen Gründen zu: Sei es, um die Prozesse besser bewältigen zu können oder aufgrund sich wandelnder Finanzierungsbedingungen, wie das Beispiel der Fallpauschalen (siehe Hauptartikel) deutlich macht. Auch eine dauernde Explizierung von Zeit kann sowohl als Orientierungsgrösse wie auch als Druckkomponente wirken. Zusätzlich gilt es aber zu berücksichtigen, dass eine solche dauernde „Bewusstmachung“ ebenfalls (Zeit-)Ressourcen braucht.

Formen des Einsatzes von „Zeit“

Um, basierend auf diesen Unterscheidungen, Grundzüge einer Ethik des Zeitmanagements zu skizzieren, sollte deutlich gemacht werden, wie man „Zeit“ überhaupt in einer bewussten Planung und Steuerung von Organisationen und Prozessen einsetzen kann. Hierbei spielen mehrere Dimensionen eine Rolle, die man – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – wie folgt zusammenfassen kann:

  • Prognostizierbarkeit: Planung verlangt eine Idee davon, wie weit man die Ereignisse, welche die Prozesse in Organisationen bestimmen, voraussehen kann. Je grösser die Prognostizierbarkeit, desto besser können die Strukturen, innerhalb derer die Prozesse ablaufen, auf diese zugeschnitten werden und deren „Effizienz“ (die pro Zeiteinheit erledigten Aufgaben) kann optimiert werden. Nimmt die Vorhersagbarkeit ab, so sind Redundanz und Sequenzierung mögliche Instrumente zum Umgang mit Unsicherheit. In der ersten Situation bedeutet dies, dass man beispielsweise „Zeitpuffer“ im System einbaut, indem man Aufgaben auf mehr beteiligte Personen verteilt. Im anderen Fall meint das ein Verfahren, wonach man rasch einen Überblick über die Wichtigkeit neu auftretender Ereignisse gewinnt und die unwichtigen Ereignisse „in die Zukunft“ schiebt.

  • Abstimmung von Zeitskalen: Prozesse, die massgeblich das Zusammenwirken unterschiedlichster Akteure (und damit Teilprozesse) verlangen, müssen aufeinander abgestimmt sein. Der Begriff „Zeitskala“ meint dabei charakteristische Zyklus- oder Durchlaufzeiten bestimmter Prozesse. Praktisch jede Organisationsform von Materie kann nur bestehen, wenn die in ihr ablaufenden Prozesse aufeinander abgestimmt sind. Bereits in einer biologischen Zelle beispielsweise können viele hundert unterschiedliche metabolische Prozesse ablaufen. Sind diese nicht aufeinander abgestimmt, kommt es zu sogenannten delay-Phänomenen: Bestimmte Zellprodukte häufen sich an und bringen auf unerwartete Weise viele andere Prozesse aus dem Rhythmus, was letztlich zum Tod der Zelle führt. Solche delay-Phänomene finden sich natürlich auch in den Prozessen von Unternehmen oder Organisationen – unter anderem als Folge der Reorganisation von Prozessen ohne ausreichende Kenntnis über deren tatsächlichen Ablauf. Demnach ist die Gewinnung solcher Kenntnisse über zeitliche Abläufe von Prozessen und deren Abstimmung ein weiteres Beispiel dafür, „Zeit“ bewusst einzusetzen.

  • Grad der Explizierung von Zeit: Für Prozesse in Unternehmen und Organisationen kann unterschiedlicher Begründungs- und Rechtfertigungsdruck bestehen. Entsprechend ist es eine Management-Aufgabe, zu entscheiden, welche Prozesse eher automatisiert werden können und welche Zeit für eine bewusste Entscheidungsfindung benötigt wird (vgl. dazu auch das nachfolgende Interview mit Johannes Rüegg-Stürm). Man ist natürlich geneigt, Probleme mit einem entsprechenden „ethischen Gewicht“ für letztere Prozesse vorzusehen. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass die Automatisierung von Abläufen indirekte Effekte haben kann, die ebenfalls von ethischer Relevanz sind. Die Einsatzform von Zeit ist in diesem Fall das Schaffen von „Zeiträumen“, in denen bei geeigneten Nebenbedingungen ein gerechtfertigter Entscheid gefällt werden kann.

Diese kurze Übersicht ist gewiss nicht umfassend genug, um als Ratgeber für einen bewussten Umgang mit Zeitressourcen zu diesen. Sie soll aber deutlich machen, dass das „ethische Geschäft“ vom Faktor Zeit nicht einfach abstrahieren kann. Gerade die Erkenntnis, dass bestimmte Entscheidungen Zeit brauchen, verlangt auch die Schaffung entsprechender Strukturen, welche die benötigten Zeiträume schaffen. Dies mit dem Ziel, dass ereignisbestimmende Zeitpunkte wie auch dauernde Explizierungen von Zeit in Organisationen primär als Orientierungsgrössen wirken sollen.

Dennoch kann Zeitdruck aus Organisationen natürlich nicht vollständig eliminiert werden – und das wäre vermutlich auch nicht gut. Denn unser menschliches Entscheidungsverhalten hat sich im Verlauf der Evolution immer unter Zeitdruck bewähren müssen. Stünde unbegrenzt Zeit für Entscheidungen zur Verfügung, wird vielleicht gar nicht mehr entschieden, was nichts anderes ausdrückt als die Tatsache, dass einem diese Entscheidung gar nicht wichtig ist. Oder um diesen Text philosophisch zu schliessen: Das Leben eines jeden ist begrenzt, und wir gewinnen die Sinnhaftigkeit unserer Entscheidungen auch aus dem Wissen, das dem so ist. Eine Ethik des Zeitmanagements kann in diesem Sinn auch nicht anstreben, unser Leben dem „zeitlichen Druck“ zu entziehen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, das zu verhindern, was allzu viele in ihrem beruflichen Alltag als „Leerlauf“ und dergleichen mehr erfahren.

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