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Demenz als Herausforderung für die Pflege – und die Gesellschaft

Fachkräfte in Medizin und Pflege sowie Angehörige sind im Umgang mit Demenzkranken mit schwierigen Fragen konfrontiert: Wie urteilsfähig sind Demenzkranke? Wie respektiert man Menschen mit schwindender Autonomiefähigkeit? Welche medizinischen und pflegerischen Optionen stehen zur Verfügung? Wie soll man mit Suizidwünschen Demenzkranker umgehen? Auf solche Fragen gibt der Band „Herausforderung Demenz“ praxisnah Antwort. Der Hauptartikel stellt das Buch vor und liefert einige ergänzende Fakten zu Demenz.

Das Menschsein in der Moderne ist in einem bisher wohl nicht gekannten Masse an das Gehirn gebunden. Entsprechend sind Erkrankungen des Gehirns für den modernen Menschen die vermutlich unheimlichsten Störungen, betreffen sie doch jenes Organ, an das unser Selbst unentrinnbar gekoppelt ist. Gleichzeitig sind Hirnerkrankungen ausserordentlich komplexe medizinische Phänomene, deren Ursachen schwierig zu entschlüsseln sind. So sind auch heute – in einer Zeit, in der die Hirnforschung regelmässig mit neuen Erkenntnissen aufwartet – die weitaus meisten Hirnkrankheiten nicht heilbar. Vielmehr muss man beispielsweise bei einem Hirnschlag auf die Selbstheilungskraft des Gehirns – man spricht von neuronaler Plastizität – vertrauen, die man therapeutisch unterstützen kann.

Doch viele Hirnkrankheiten nehmen einen Verlauf, der sich vielleicht etwas verlangsamen, aber weder stoppen noch umkehren lässt. Solche neurodegenerativen Krankheiten gehen einher mit einem voranschreitenden Verlust an Funktionsfähigkeit und Zellsubstanz im Gehirn und bedeuten für den Betroffenen eine tief greifende Veränderung seines Selbst. Demenzielle Erkrankungen gehören zu diesem Typus. Sie sind an Abbauprozesse im Gehirn gebunden, die man nur langsam versteht, in manchen Fällen auch erst spät im Krankheitsverlauf überhaupt nachweisen kann. Die häufigste Form ist die Alzheimer-Demenz, bei der durch Ablagerungen (so genannte Plaques) an den Nervenzellen im Gehirn deren Funktion zunehmend beeinträchtigt wird, bis sie dann absterben. Die Betroffenen verlieren dadurch zunehmend wichtige geistige Funktionen. Es sind aber gut 50 weitere demenzielle Erkrankungen bekannt, die das Gehirn schädigen und für die Betroffenen ähnliche Folgen wie Alzheimer haben.

Dennoch wäre es falsch, Demenz ausschliesslich als eine „Hirnkrankheit“ anzusehen. Die damit einhergehenden Veränderungen bei der betroffenen Person vollziehen sich in einem sozialen Raum, und die weitaus meisten therapeutischen und pflegerischen Strategien betreffen die Gestaltung dieses Raumes, zumal der medizinisch-pharmakologische Spielraum begrenzt ist. Demenz verändert Persönlichkeiten und deren Autonomiefähigkeit und stellt das soziale Umfeld auf eine harte Probe. Entsprechend erschöpft sich die Behandlung der Thematik Demenz nicht auf hirnphysiologische Aspekte – es geht um den Umgang mit dem ganzen, sich verändernden Menschen.

Zunahme der Demenz

Die gesellschaftliche Debatte verweist gerne auf die zu erwartende Zunahme der Anzahl dementer Personen. Eine Studie des in London angesiedelten King’s College – Teil des Mitte September veröffentlichten World Alzheimer Report 2009 – leiden derzeit weltweit 35 Millionen Menschen an Demenzkrankheiten – eine Zahl, die sich bis Mitte dieses Jahrhunderts auf 115 Millionen rund verdreifachen soll. In der Schweiz leben heute gemäss Zahlen der schweizerischen Alzheimervereinigung rund 100'000 Menschen mit Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz – auch diese Zahl dürfte bis ins Jahr 2050 auf 300'000 ansteigen.

Diese Prognose stützt sich auf zweierlei Aspekte: Zum einen ist diese Zunahme paradoxerweise ein Nebeneffekt des medizinischen Fortschritts: Mehr und mehr ist die Medizin in der Lage, Schäden an der „Mechanik des Körpers“ – seien dies nun Infektionskrankheiten oder Herz-Kreislauf-Probleme – zu beheben. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das weitaus komplexeste menschliche Organ, das Gehirn, als erstes irreparabel versagt. Die absolute Zahl demenzkranker Menschen war früher unter anderem deshalb tiefer, weil viel weniger Menschen das Alter erreichten, in dem degenerative Prozesse im Gehirn sich negativ auf das Leben und den Alltag der Betroffenen auswirken konnten. Zum anderen bestimmt heute ein verändertes Bild des Alterns unsere Gesellschaft: In früheren Zeiten war der körperliche und geistige Zerfall des Menschen eine gleichsam natürliche Begleiterscheinung des Älterwerdens. Demenz ist in diesem Bild schlicht eine Variante des Alterns, die sich nur graduell von anderen unterscheidet. Heute aber ist Altern in bestmöglichster Gesundheit das Ziel – und Zerfallsprozesse jeglicher Art werden mit allen Mitteln der modernen Medizin, mit Sport im Alter, mit Wellness-Angeboten und weiteren unter dem Stichwort „Anti-Aging-Medizin“ laufenden Angeboten bekämpft. Jene Zerfallsprozesse, gegen die kein Kraut gewachsen ist, werden dann zu einer existenziellen Bedrohung dieses neuen Bildes des Alters. Wird dann noch der finanzielle Aspekt mit in Betracht gezogen – denn die würdevolle Pflege demenzkranker Menschen ist teuer –, verdichtet sich die Vorstellung, dass Demenzerkrankungen eine zentrale medizinische Herausforderung für die künftige Gesellschaft sind.

Enorme Herausforderung für die Gesellschaft

Einen Kernpunkt der gesellschaftlichen Herausforderung bilden die Kosten, welche die Pflege Demenzkranker verursacht. Die durchschnittliche Krankheitsdauer vom ersten Symptom bis zum Tod beträgt für die Alzheimer-Krankheit acht Jahre, wobei erhebliche individuelle Unterschiede zu beobachten sind. Je nach Schweregrad der Erkrankung unterscheiden sich die Kosten enorm. Eine ältere Studie von 1998 zeigt, dass sich in der Schweiz die durch¬schnittlichen Direktkosten für das Gesundheitswesen (ohne die Eigenleistungen der Betroffenen) pro demenz¬kranker Mensch, der zu Hause lebt, jähr¬lich auf CHF 16'000.– belaufen, im Vergleich zu CHF 73'000.– für einen im Heim lebenden Kranken (Quelle: Website der Schweizerischen Alzheimervereinigung). Damit ist aber auch klar, dass eine Veränderung der Demografie die durch Demenz verursachten Kosten überproportional verändern wird: Stehen insgesamt in einer Gesellschaft weniger jüngere Familienangehörige zur Verfügung, die mithelfen, ihre demenzkranken Eltern zu pflegen, verstärkt dies den Effekt der allein durch die zunehmende Zahl an Demenzkranken zu erwartenden Kostensteigerung.

Zudem zeigen sich immer wieder enorme Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Ursachen von Demenzerkrankungen. Regelmässig müssen klinische Versuche mit neuen therapeutischen Ansätzen wie Impfungen gegen Alzheimer oder Verfahren zur Bremsung der Plaques abgebrochen werden, weil sie sich als wirkungslos oder gar zu gefährlich für die Patienten erwiesen haben. Im vergangenen Jahr meinte der renommierte amerikanische Forscher Paul Aisen gar, man müsse immer noch davon ausgehen, dass die heutigen Vorstellungen bezüglich Ursachen von Alzheimer bislang nicht bewiesen worden sind und man offen für die Möglichkeit sein sollte, dass sie falsch sein könnten. Die Diagnose von Demenzkrankheiten macht zwar zunehmend Fortschritte, unter anderem dank der Nutzung bildgebender Verfahren. Eigentliche Therapien sind aber bislang nicht aus den grossen Forschungsanstrengungen erwachsen.

In wirtschaftlicher Hinsicht dürfte Demenz für die Pharmaindustrie nur schon wegen der erwarteten steigenden Anzahl von Betroffenen eine zunehmende Bedeutung haben. Dies zeigt sich darin, dass auch neue Wege begangen werden. Die Konzerne entwicklen nicht nur Medikamente, sondern investieren in die Versorgungsforschung. Seit 2006 unterstützt Pfizer beispielsweise in Deutschland zusammen mit anderen Firmen und staatlichen Organisationen das Projekt „Initiative für Demenzversorgung in der Allgemeinmedizin“, in dem unterschiedliche Versorgungsmodelle für demente Menschen ausprobiert und wissenschaftlich begleitet werden. Néstlé wiederum ist mit der ETH Lausanne eine Kooperation eingegangen, um zu erforschen, mit welchen Nahrungsmitteln man am besten einer Demenz vorbeugen kann. Die Hilfsmittel- und Medizintechnikunternehmen hingegen steigen erst langsam in diesen Markt ein. In Deutschland sind es vorab kleine und mittlere Unternehmen, die an allerlei Unterstützungssystemen forschen, so dass Demenzkranke möglichst lange eigenständig leben können.

Das Buch „Herausforderung Demenz“

Das neue Buch „Herausforderung Demenz“ will das Spektrum dieser Herausforderungen darlegen – dies mit Fokus auf den Umgang mit Demenzkranken im Heim. Die Beiträge der Autorinnen und Autoren gliedern sich dabei in zwei Teile: Im ersten Teil werden medizinische und ethische Grundlagen zur Demenz besprochen, während im zweiten Teil der Umgang mit Demenz im Alltag von Medizin und Pflege thematisiert wird. Die Ärztin Ivana Radman gibt eine umfassende Einführung in die medizinischen Aspekte der Demenz. Sie beleuchtet den Demenzbegriff selbst, der ein Überbegriff von etwa 55 Varianten demenzieller Erkrankungen ist. Sie präsentiert die wichtigsten Formen von Demenz mit Schwerpunkt auf der Alzheimer-Erkrankung. Hierzu wird dann auch der Stand der Forschung über Ursachen der Alzheimer-Demenz dargelegt und ihre Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten vorgestellt.

Die beiden anderen Grundlagentexte fokussieren ethische Aspekte der Alzheimer-Demenz. Die deutsche Medizinethikerin Verena Wetzstein untersucht, inwieweit die heutige Debatte über Alzheimer von reduktionistischen Menschenbildern geprägt ist und welche Auswirkungen dies auf den Umgang mit Demenzkranken haben kann. Um den damit einhergehenden Gefahren für den respektvollen Umgang mit dementen Menschen begegnen zu können, formuliert sie mehrere Prinzipien einer so genannt „integrativen Demenz-Ethik“. Die amerikanische Bioethikerin Agnieszka Jaworska wiederum untersucht ein zentrales ethisches Problem, das im Fall demenzieller Erkrankungen auftritt: der Konflikt zwischen früheren Wertvorstellungen des Patienten und seinen aktualen Wünschen. In der Medizinethik wird hierzu oft argumentiert, dass Alzheimerpatienten zu einer umfassenden Beurteilung des eigenen Lebens nicht mehr befähigt seien und demnach die früheren Werte der Patienten den Ausschlag bei solchen Dilemmas geben sollten. Ihr Beitrag plädiert für eine alternative Sicht auf dieses Problem, indem der Blick auf die Autonomiefähigkeiten der Betroffenen unter Einbezug von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen geschärft wird. Gemäss Jaworska bildet die Fähigkeit zur Wertschätzung den Kern der Autonomie und damit auch die Basis für die Respektierung der Wünsche demenzkranker Menschen.

Umgang mit Demenz im Alltag

Die Texte des zweiten Teils fokussieren Aspekte, die beim medizinischen und pflegerischen Umgang mit dementen Menschen bedeutsam sind. Der Arzt Roland Kunz untersucht die Frage, wie Möglichkeiten und Grenzen medizinischer Behandlungen bei fortgeschrittenen Phasen von Demenz beurteilt werden können – sowohl in medizinischer als auch ethischer Hinsicht. Die Pflegefachfrau Giovanna Jenni beleuchtet die ethischen Dilemmas, die sich den Pflegenden beim Umgang mit dementen Menschen stellen. Sie untersucht insbesondere, welche Faktoren das „gute pflegerische Handeln“ fördern und welche diesem entgegenwirken.

Die Psychiaterin und Psychotherapeutin Jacqueline Minder thematisiert ein zentrales ethisches wie praktisches Problem: Wie urteilsfähig sind Menschen mit einer Demenz? Anhand mehrerer Fallbeispiele zeigt sie, wie unter Einbezug der Angehörigen und der Biografie der Betroffenen ein differenzierteres Bild von deren Urteilsfähigkeit gezeichnet werden kann. Der Mediziner Jean-Luc Moreau befasst sich dann mit praktischen Problemen, die etwa bei der Heimeinweisung einer dementen Person auftreten können. Er untersucht dabei insbesondere die Frage, wann ein Handeln gegen den Patientenwillen gerechtfertigt sein kann. Die Ärztin Regula Schmitt-Mannhart und die Pflegefachfrau Hedi Rusak schliesslich stellen sich die Frage, wie die im Heim am Umgang mit Dementen beteiligten Disziplinen optimal zusammenarbeiten können, um Dilemmasituationen zum Wohle aller Betroffenen zu lösen.

Der Forschungsbedarf bei Demenz betrifft nicht nur die Untersuchung ihrer neurobiologischen Ursachen, sondern auch die Frage, wie man Demenzkranke optimal pflegen und deren Lebensqualität verbessern kann. Der Runde Tisch Science et Cité hat dazu einen innovativen Ansatz zum Design eines solchen Forschungsprojektes gewählt, bei dem Forschende und Angehörige gemeinsam das Projekt ausgestalten. Die Gerontopsychologin Caroline Moor, die Wissenschaftsjournalistin Rosmarie Waldner und der Sozialwissenschaftler Hans Rudolf Schelling beschreiben in ihrem Beitrag, wie eine solche partizipative Erforschung der Lebensqualität bei Demenz vonstatten geht. Ein kurzer Text der Schweizerischen Alzheimervereinigung thematisiert dann ein Problem, das bei Demenz eine besondere Schärfe erhält: die Suizidbeihilfe. Demente Menschen, vorab in der Anfangsphase ihrer Krankheit, äussern oft den Wunsch, nicht mehr leben zu wollen. Ethische Leitlinien zum Umgang mit diesem Wunsch werden in einem Forderungskatalog der Alzheimervereinigung dargelegt. Miriam Sticher-Levi und Jutta Stahl präsentieren schliesslich das Angebot der Schweizerischen Alzheimervereinigung, die Betroffenen und Angehörigen Hilfestellung beim Umgang mit Demenz gibt.

Insgesamt gibt so der vorliegende neunte Band der Reihe „Interdisziplinärer Dialog – Ethik im Gesundheitswesen“ einen breiten Einblick in Möglichkeiten und Strategien, wie mit dem Phänomen Demenz auf ethisch und medizinisch verantwortliche Weise umgegangen werden kann.

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