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Intersexualität – wenn die Dualität des Geschlechts durchbrochen wird

Menschen sind entweder „Männer“ oder „Frauen“. Auch wenn die damit verbundenen sozialen Rollenvorstellungen im Laufe der Zeit flexibler geworden sind, so ist diese Kategorisierung in biologischer Hinsicht – aber auch darüber hinaus – für viele Menschen grundlegend. Es gibt aber auch Menschen bei denen männliche bzw. weibliche Merkmale nicht klar ausgeprägt sind, man spricht von Intersexualität. Während man früher in diesen Fällen meist früh operativ eingegriffen hat, um ein „eindeutiges“ Geschlecht zu schaffen, so sind die medizinischen und sozialen Folgen solcher Eingriffe zunehmend kritisch betrachtet worden und es hat sich ein neuer Umgang mit Intersexualität etabliert

Im Alter von acht Monaten ist der Penis von Bruce bei einer Beschneidung irrtümlich verstümmelt worden und konnte nicht mehr wiederhergestellt werden. Man beschloss, mittels chirurgischer Intervention ein weibliches Geschlechtsteil zu schaffen und in den folgenden Jahren durch Hormontherapie das weibliche Geschlecht gewissermassen zu festigen. Aus Bruce wurde Brenda, die von nun an als Mädchen betrachtet und aufgezogen wurde, während ihr Zwillingsbruder weiter als Knabe aufgewachsen ist. Dies geschah in der Annahme dass im Alter von acht Monaten die Geschlechtsidentität noch nicht definiert war und durch entsprechende Erziehung geformt werden kann. Doch Brenda entwickelte sich auffällig. Sie weigerte sich, an „mädchentypischen“ Aktivitäten teilzunehmen, wollte keine Mädchenkleider anziehen, bevorzugte Spielwaffen vor Puppen und wollte im Stehen urinieren. Sie zahlte in ihrer Jugend einen hohen sozialen Preis für die Verweigerung der weiblichen Rolle. Mit 14 Jahren, als sich die Situation zuspitzte, wurde ihr ihre Geschichte eröffnet. Sie entschloss sich, fortan weiter als Mann zu leben, bekam Hormone, die Brüste wurden entfernt und ein Penis rekonstruiert. Aus Brenda wurde wieder Bruce, der später auch eine Partnerschaft mit einer Frau und ihren drei Kindern aus früherer Beziehung einging. Er lebte „erfolgreich“ als Mann, dann aber erfolgte sowohl die Trennung von seiner Frau als auch der Verlust seines Arbeitsplatzes. Bruce nahm sich das Leben.

Dieser berühmte Fall der Medizingeschichte beschreibt zwar keine klassische Form von Intersexualität – er zeigt aber beispielhaft auf, welche psychologischen und sozialen Folgen mit dieser Problematik einhergehen. Die geschlechtliche Dualität ist in biologischer und kultureller Hinsicht grundlegend, auch wenn die damit verbundenen Rollenvorstellungen durchaus einer Wandlung unterliegen. Wer „falsch zugeordnet“ wird oder in biologischer Hinsicht eine „Zwischenform“ darstellt, wird mit dieser Dualität in Konflikt geraten. Inwieweit man medizinisch, psychologisch, sozial und ethisch mit diesem Problem umgehen soll, ist in den letzten Jahren einem deutlichen Wandel unterworfen worden, was auch zu einer Hinterfragung der Dualität der Geschlechter geführt hat – auch wenn man diese nur schwerlich aufheben kann

Definition von Intersexualität

Medizinisch ist schon lange bekannt, dass manche Menschen aufgrund der Beschaffenheit der äusseren Geschlechtsorgane nicht eindeutig „Mann“ oder „Frau“ sind. Früher wurde dieser Zustand medizinisch als Hermaphroditismus bezeichnet, im Volksmund nannte man solche Menschen „Zwitter“. Je mehr man über die biologischen und genetischen Ursachen solcher Fälle wusste, desto komplizierter wurde aber die Sachlage. Entsprechend gibt es heute unterschiedliche Definitionen für Intersexualität . Gemäss einer engen Definition spricht man nur dann von Intersexualität, wenn eine Diskrepanz zwischen eine unauffälligen Chromosomensatz und äusseres Erscheinungsbild eines Genitals nach der Geburt oder nach der Pubertät besteht. So kann beispielsweise bei Personen mit zwei X-Chromosomen eine Vermännlichung der weiblichen Geschlechtsteile vorkommen. In sehr seltenen Fällen kann eine solche Person äusserlich vollständig als Mann erscheinen und die Anomalie wird meist erst dann festgestellt, wenn z.B. nach den Ursachen für Unfruchtbarkeit gesucht wird, denn solche Personen sind nicht zeugungsfähig. Eine weite Definition von Intersexualität umfasst auch Personen mit so genannten Chromosomenaberrationen, z.B. das Turner-Syndrom (Frauen mit nur einem X-Chromosom), die sich ebenfalls auf die Ausgestaltung der Geschlechtsteile auswirken können. Entsprechen schwanken auch die (noch sehr ungenauen) Schätzungen zur Prävalenz der Intersexualität. In der engen Definition liegt diese bei rund 0.02%, in der weiten Definition bei etwa 1.7%.

Die Bemühungen zur Definition von Intersexualität widerspiegeln auch wandelnde gesellschaftliche Einstellungen zu diesem Phänomen. Letztlich geht es um die Frage, ob Intersexualität überhaupt als Krankheit gelten soll – ein Punkt, den Aktivisten (organisierte Betroffene) zunehmend aufwerfen. Jedenfalls wurde die Bezeichnung „Hermaphroditismus“ aufgegeben, weil diese als zu diskriminierend galt. In einer Consensus-Konferenz im Jahr 2006 wurde die Bezeichnung „disorder of sex development“ (DSD) gewählt. Manche halten den Begriff „disorder“ bereits als problematisch und bevorzugen (nebst Intersexualität) den Begriff „differences of sex development“ bzw. „Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung“.

Entsprechend hat sich auch der medizinische Umgang mit Intersexualität stark gewandelt. Als keine Optionen zur Verfügung standen, wurden Betroffene ihrem Schicksal überlassen, das je nach Art der Anomalie und Kultur unterschiedlich gewesen sein dürfte. Wie stark das Stigma einer solchen Anomalie gewesen war, ist schwer abzuschätzen – gesicherte historische Quellen dazu gibt es kaum. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich in der westlichen Welt im Zug der neuen chirurgischen Möglichkeiten zunächst die Meinung durchgesetzt, bei Unklarheiten in der Geschlechtszuschreibung müsse möglichst früh chirurgisch eine „Eindeutigkeit“ geschaffen werden – in der Regeln bedeutete dies die Schaffung eines weiblichen Genitals, weil dies als technisch einfacher galt. Massgebend wurden die Richtlinien des Arztes John Money, der folgende Richtlinien für eine optimal gender policy festlegte: Frühzeitige Zuweisung zu einem Geschlecht, operative Angleichung möglichst in den ersten Lebensmonaten und Geheimhaltung der Diagnose und Nichtaufklärung der Betroffenen. Diese Vorgehensweise hat sich aber aus verschiedenen Gründen gewandelt: zunehmendes Wissen über die einzelnen Formen von Intersexualität führte zu veränderten Behandlungsstrategien – die nicht zuletzt wegen der gewandelter gesellschaftlichen Einstellung und dem Druck der Betroffenen auch zunehmend umgesetzt werden.

Formen von Intersexualität

Intersexualität umfasst ein breites Spektrum unterschiedlicher Formen. Hier orientieren wir uns an der engen Definition von Intersexualität, d.h. die nachfolgenden Auffälligkeiten treten bei Personen auf, die an sich einen „normalen“ Chromosomensatz haben (XX bei der Frau, XY beim Mann):

  • Das adrenogenitale Syndrom (AGS): Hierbei handelt es sich um eine Störung der Nebennierenfunktion, die eine ausreichende Bildung des Hormons Kortisol verhindert. Das wirkt sich auch auf die Geschlechtsentwicklung aus, indem es zu einer Überproduktion männlicher Geschlechtshormone kommt. Dies führt bei Personen mit XX-Chromosomen zu einer Vemännlichung der Geschlechtsteile (z.B. übergrosse Klitoris), Menstruationsstörungen und Unfruchtbarkeit. Die so genannte klassische AGS geht mit einem hohen Salzverlust einher, die lebensbedrohend werden kann. Entsprechend muss beim Vorliegen intersexueller Genitalien beim Neugeborenen immer zuerst abgeklärt werden, ob eine AGS vorlegt, die dann behandelt werden kann.

  • Androgenrezeptorfedekte: Bei manchen Personen mit XY-Chromosomen können die Geschlechtshormone nur vermindert oder gar nicht wirken, weil die Funktion der Zell-Rezeptoren für diese Hormone gestört ist. Weil der „Grundbauplan“ des Körpers in der Entwicklung im Mutterkörper weiblich ist, sind bei diesen Personen weibliche Geschlechtsmerkmale bei der Geburt mehr oder weniger stark vertreten. Bei einer so genannt kompletten Androgenresistenz (d.h. die männlichen Geschlechtsorgane wirken überhaupt nicht), hat die Person trotz XY-Chromosomen weibliche äussere Geschlechtsteile, während aber die inneren Geschlechtsteile (z.B. Uterus) fehlen.

  • Störung der Androgenbiosynthese: Bei diesen Personen mit XY-Chromosomen ist die Produktion männlicher Geschlechtshormone gestört. Diese Personen haben bei Geburt meist weibliche äussere Geschlechtsteile und fallen nur durch die ausbleibende Regelblutung und Unfruchtbarkeit auf. Sie können aber auch in der Pubertät starke Virilisierungserscheinungen (Stimmbruch, männliche Körperbehaarung) aufweisen.

  • Gonadendysgenesien: Bei Personen mit Gonadendysgenesien kommt es zu Fehlentwicklungen der Keimdrüsen, wobei unterschiedliche Krankheiten in diese Klasse gehören. Gonadendysgenesien gibt es sowohl bei einem 46XX als auch bei einem 46XY-Chromosomensatz, sie können auch aufgrund von Chromosomen-Störungen oder Fehlverteilungen (Mosaik, z.B. 45X/46 XY) auftreten. Die Geschlechtsteile können sowohl eher männlich als auch eher weiblich aussehen, und dies kann sowohl während der Geburt oder aber erst im Verlauf der Pubertät auftreten.

Je nach Chromosomensatz kann man demnach drei Formen von Intersexualität unterscheiden: So kann die betreffende Person vom Chromosomensatz her männlich sein (XY), aber die männlichen Geschlechtshormone werden entweder nicht produziert oder wirken aber nicht bzw. unzureichend. Im Zug der Entwicklung verbleibt deshalb der Körper (mehr oder weniger) im weiblichen Bauplan bzw. die in der Pubertät auftretenden sekundären Geschlechtsmerkmale werden nicht oder kaum ausgebildet. Zweitens kann der Chromosomensatz weiblich sein (XX), doch männliche Hormone können im Zug der Entwicklung stärker auftreten und eine bereits bei der Geburt bestehende bzw. in der Pubertät auftretende Vermännlichung der Geschlechtsmerkmale bewirken. Drittens kann es schliesslich in Folge von Chromosomenaberrationen zu Intersexualität kommen, wenn man der weiten Definition von Intersexualität folgt.

Medizinische Behandlung von Personen mit Intersexualität

Wie bereits erwähnt, hat sich die Art der Behandlung von Intersexualität im Laufe der Zeit verändert. Chirurgisch stehen vier Optionen zur Verfügung: Genitaloperationen, Operationen zur Verbesserung der anatomisch-sexuellen Funktionalität, präventive oder kurative Entfernung von Keimdrüsen sowie Operationen zur Erhaltung und Ermöglichung der Fruchtbarkeit – letztere ist nur in wenigen Fällen überhaupt möglich. Nebst solchen chirurgischen Massnahmen werden in den meisten Fällen durch Hormongaben an definierten Zeitpunkten der Entwicklung ergänzt, wobei das konkrete Vorgehen vom jeweils vorliegenden Fall abhängt.

In der Vergangenheit standen Genitaloperationen im frühen Kindesalter im Vordergrund – eine heute seltener vorgenommene Option. In der Regel werden solche Operationen primär dann vorgenommen, wenn klare medizinische Probleme vorliegen, wie z.B. Fehlbildungen der Harnröhre. Operationen an der Klitoris können zu einer teilweisen Desensibilisierung des Gewebes führen, was die künftige Sexualität beeinträchtigt. Dies muss in Fällen, wo ein solcher Eingriff angezeigt erscheint, berücksichtigt werden und ist auch von Betroffenengruppen stark kritisiert worden.

Die Einstellung zu Operationen, die zur Verbesserung der anatomisch-sexuellen Funktionalität führen sollen – also beispielsweise eine Vagina- oder Phalloplastik (Konstruktion einer Vagina oder eines Penis) – hat in den letzten Jahren die wohl stärkste Wandung erfahren. Man geht heute davon aus, dass derartige Operationen frühestens im Pubertätsalter vorgenommen werden sollten, wenn sich die Betroffenen auch selbst zu diesen Punkt äussern können.

Die kurative Entfernung von Keimdrüsen ist eine therapeutische Option bei gewissen Androgenrezeptordefekten, weil man lange der Ansicht war, dass dieses Hodengewebe vermehrt krebsartig entarten kann. Inwieweit dieses Risiko wirklich erhöht ist, ist heute aber umstrittener und hängt wohl von der Art des Androgenrezeptordefektes ab. Zudem werfen Betroffene ein, dass die Entfernung der Gonaden im Kindesalter zu psychischen Verstimmungen im Erwachsenenalter führen würde. Entsprechend ist eine solche Entfernung von Gonaden heute nur in wenigen Fällen angezeigt, während in anderen eine Abwägung der Risiken vorgenommen werden sollte.

Generell hat sich bei der Behandlung von Intersexualität zunehmend gezeigt, dass es sich hier nicht um ein rein medizinisch zu lösendes Problem handelt, sondern den psychosexuellen Aspekten deutlich mehr Gewicht gegeben werden sollte. Auch zeigt die Erfahrung, dass ein uneindeutiges Geschlecht nicht notwendigerweise zu einer Störung der psychosexuellen Entwicklung führen muss, während gewisse medizinische Interventionen ebenfalls ein solches Risiko beinhalten können. Die Toleranz gegenüber dem Phänomen Intersexualität hat zugenommen.

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