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Planet Hirn

Markus Christen

Der Blick auf die Entwicklung der (Natur-)Wissenschaften verleitet regelmässig zur Festlegung einer „Leitwissenschaft“ – einer über einen gewissen Zeitraum vorherrschenden Strömung im Wissenschaftsbetrieb. Deren Dominanz kann sich in vielerlei Hinsicht ausdrücken: In der hohen Zahl der in ihr produzierten Erkenntnisse, der Anwendung ihrer charakteristischer Methoden in anderen Bereichen, der Steigerungsrate der akquirierten Forschungsmittel oder in ihrer populärwissenschaftlichen Rezeption. Die Hirnforschung dürfte derzeit in all diesen Kategorien gut abschneiden. Sie geniesst auf der öffentlichen Bühne viel Aufmerksamkeit, Mittel sind leichter zu generieren als etwa in der Botanik oder für Projekte der theoretischen Philosophie, sowie zahlreiche „Bindestrich-Wissenschaften“, wie etwa Neuro-Pädagogik oder Neuro-Finance, verweisen auf (zu) hochgesteckte Erwartungen hinsichtlich der Anwendung ihrer Methoden in anderen Gebieten. Vergleicht man schliesslich die Publikationsrate in der Neurowissenschaft mit jener des gesamten Wissenschaftsbetriebs, so zeigt sich seit den 1960er Jahren ein überdurchschnittliches Wachstum. Fürwahr scheint damit die Hirnforschung zu einer Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts avanciert zu sein.

Bruchlinien und Störzonen

Der Idee einer „Leitwissenschaft“ haften aber auch kritische Komponenten an. Ihre Ansprüche mögen überzogen, ihre Resultate überbewertet und Forschungsgelder zu stark in eine Richtung gedrängt worden sein. Zudem nährt der Begriff ein Bild einer monolithischen Wissenschaft, welche unablässig Wissen akkumuliert, machtvolle Technologie produziert und damit die Gestaltungskraft des Menschen unablässig ausdehnt. Dass die Dinge komplizierter liegen, lehrt die Wissenschaftsgeschichte schon lange. Der Begriff „Hirnforschung“ umstülpt zahlreiche unterschiedliche Wissenstraditionen. Aus diesem Grund wird hier vorgeschlagen, die Neurowissenschaft einmal aus einer ganz anderen Perspektive zu beschreiben – im Sinn einer „Tektonik der Hirnforschung“.

Dieser aus den Geowissenschaften stammende Begriff ist bewusst gewählt. Man kann sich die verschiedenen Theoriegemeinschaften, welche zusammen das Projekt Hirnforschung bilden, als tektonische Platten eines „Hirnplaneten“ vorstellen, dessen Landflächen das Wissen über das Gehirn repräsentieren und die von verschiedenen Hirnforscher-Stämmen besiedelt werden. Im Bild der Plattentektonik ist das Wissen dynamisch: es kann zusammenprallen und sich vereinen, wobei gewisse Wissenstraditionen in lichte Höhen gelangen und neue Theorie-Gebirge formen, während andere in die Tiefe gedrückt und aufgeschmolzen werden. Manchmal senken sich Platten unter den Meeresspiegel und werden von den dort lebenden Hirnforschern aufgegeben. Gebirge erodieren und ihr Theorie-Material lagert sich in Ebenen ab, die im Lauf der Zeit wieder vom Meer überspült werden. Zuweilen kommt es zu vulkanischer Aktivität, wenn neue Gedanken sich den Weg zur Oberfläche brechen und Inseln oder gar einen Kontinenten formen, der dann in ein tektonisches Wechselspiel mit den anderen Kontinenten treten kann. Bruchlinien und Störzonen liefern Anlass für Erschütterungen. Auch die verschiedenen Stämme des Volkes der Hirnforscher sind sich nicht immer freundlich gesinnt, suchen aber auch den Kontakt zueinander – was zuweilen riskanten Seefahrten zwischen den Kontinenten nötig macht. Dieses Bild soll hier benutzt werden, um eine, gewiss grobe, Skizze der zeitgenössischen Hirnforschung zu zeichnen.

Der anatomisch-neuropsychologische Rücken

Es gibt einen alten, schon seit langem besiedelten Doppelkontinent auf dem Hirnplaneten. Er entstand, als die neuroanatomische mit der neuropsychologischen Platte zusammen stiess und dabei ein grosses Gebirge, den anatomisch-neuropsychologischen Rücken, auffaltete. Dieser Doppelkontinent befindet sich im Zentrum der Landkarte unseres Planeten und die Gebirgskette verläuft in Nord-Süd-Richtung. An der westlichen Flanke lebt der Stamm der Neuroanatomen, welche Schädel öffnen und die Struktur der darunter liegenden Gehirne erkunden. An der östlichen Flanke des anatomisch-neuropsychologischen Rückens siedelt der Stamm der Neuropsychologen, die mittels Einzelfallstudien bei kranken Mitgliedern des Volkes der Hirnforscher Zusammenhänge zwischen Verhaltensauffälligkeiten und Hirnschädigungen suchen. So manche hohe Bergspitze des anatomisch-neuropsychologischen Rückens ist in den Nebel der Unwissenheit gehüllt. Dennoch ist das Gebirge alt und die Erosion hat schon viel Schutt produziert und in die umliegenden Meere gespült.

Eine Ebene im nordöstlichen Teil der neuropsychologischen Platte – das Psychoanalyse-Tiefland – ist schon derart vom Schutt zugedeckt, dass sie wieder weitgehend im Ozean der Spekulation versunken ist. Es entstand ein seichtes Wattenmeer, das aber noch einige von Analytikern und Therapeuten bewohnte Inseln aufweist. Das Psychoanalyse-Tiefland bildet zudem eine Subduktions-Zone mit einem jüngeren Kontinent im nordöstlichen Teil unserer Landkarte – dem Kontinent der Neuropharmakologie. Das sich dort erst kürzlich aufgefaltete Psychopharmaka-Gebirge erfreut sich beim dort lebenden Stamm der Neuropharmakologen, wie auch bei den Neuropsychologen, die als Touristen das Gebiet bereisen, derzeit grosser Beliebtheit. Vielen Kranken des Volkes der Hirnforscher werden derzeit Kuren im Psychopharmaka-Gebirge angeboten – wobei aber manche Mitglieder des Stammes der Neuropsychologen davor warnen, die Patienten nur in diese Höhe zu schicken. Zuweilen seien auch längere Aufenthalte auf den Analytiker- und Therapeuten-Inseln ebenso heilsam. Der Reiseveranstalter für die Patienten hingegen hält die Aufenthalte auf den Inseln meist für zu teuer.

Der Plastizitäts-Vulkanismus formt neue Inseln

In der nordwestlichen Ecke unserer Landkarte befindet sich der Kontinent der Neurotechniker. Hier lebt ein Stamm von Hirnforschern mit physikalischem und mathematischem Theoriehintergrund, die das Meer der Spekulation ganz anders erkunden wollen, als die anderen. Sie bauen Dämme in das Meer hinaus, gewinnen Neuland und bezeichnen das so erschlossene Land als das wahre und verstandene Wissen über das Gehirn. Anderen Hirnforschern ist deren Mischung aus Basteltrieb und theoretischer Rigorosität suspekt. Dennoch zeigen geologische Untersuchungen, dass es früher eine Landverbindung zwischen dem Kontinent der Neurotechniker und dem Kontinent der Neuroanatomen gegeben haben muss – den Gehirn-Computer-Isthmus, eine nun versunkene Landenge. Demnach war es wohl einst zu einer Besiedelung dieses Kontinenten von der neuroanatomischen Platte aus gekommen. Die Auswanderer hofften, ihr anatomisches Wissen über das Gehirn in Schaltpläne übersetzen zu können, um zusammen mit den Ureinwohnern des Kontinents der Neurotechniker – Clans von Mathematikern und Physikern – eine neue Form von Hirnforschung zu betreiben.

Das Dreieck zwischen dem Land der Neurotechniker, dem anatomisch-neuropsychologischen Doppelkontinenten und dem Kontinent der Neuropharmakologen ist derzeit Schauplatz eines gewaltigen vulkanischen Spektakels mit noch ungewissen Folgen für das Klima auf dem Hirnplaneten. Hier findet der Plastizitäts-Vulkanismus statt, der unaufhörlich neue Inseln schafft, die sich dereinst zu einem neuen, grossen Kontinent vereinen können. Der Vulkanismus drückt aus, dass das Gehirn offenbar weit wandlungsfähiger ist, als man bisher dachte. Bereits bereisen Mitglieder der unterschiedlichen Stämme diese noch neuen Inseln. So erhoffen sich beispielsweise die Neuropsychologen, auf den Inseln Erklärungen für die doch erstaunliche Varianz bei ihren Fallbeschreibungen, welche Verhaltensauffälligkeit mit Hirnabnormität in Verbindung bringen, zu finden. Jedenfalls sind sich alle einig, dass der Plastizitäts-Vulkanismus ein bedeutendes Ereignis auf dem Hirnplaneten ist.

Der Emotions-Kontinent und das Bewusstein-Atlantis

Auch im südöstlichen Bereich unserer Landkarte zeigt sich eine interessante Entwicklung. Viele der Ablagerungen des anatomisch-neuropsychiatrischen Rückens, welche die Erosion ins Meer gespült hatte, sind durch eine Hebung wieder ans Tageslicht gekommen und bilden den Emotions-Kontinenten – ein beliebter und rasch besiedelter Kontinent auf unserem Hirnplaneten. Er ist so en vogue, dass versucht wird, mit Bildgebungs-Brücken den Kontinenten mit dem anatomisch-neuropsychologischen Doppelkontinenten zu verbinden – doch die Sache ist nicht so einfach und Untiefen lassen immer wieder Brückenpfeiler versinken.

Ganz im Osten unserer Landkarte befindet sich ein weit entfernter Kontinent. Erst langsam siedelt sich dort ein Stamm von Hirnforschern an, welche soziale Aspekte der Hirnforschung untersuchen wollen. Sie stellen sich die Frage, wie soziale Interaktionen Gehirne formen und wie man das überhaupt untersuchen kann. Noch ist das Land eher karg und es fehlen geeignete Werkzeuge, um es zum Blühen bringen zu können. Auch ist die Seereise lang und hart. Zuweilen fegen neuroethische Stürme über das Meer und versenken die Schiffe. So hat sich langsam der Konsens etabliert, dass eine Besiedlung des Kontinents der sozialen Hirnforschung nur über den Emotions-Kontinent gelingen kann.

Schliesslich gibt es auch Mythen auf unserem Hirnplaneten. Der wichtigste Mythos ist jener eines Kontinenten „Bewusstsein-Atlantis“, der sich irgendwo in der nordwestlichen Ecke unserer Landkarte befinden soll. Dieser Kontinent soll die endgültigen Antworten auf tiefe Fragen über die Natur des Geistes der Hirnforscher geben. Schon mancher Hirnforscher ist aufgebrochen, dieses gelobte Land zu finden – mit der vollmundigen Versprechung, die heutigen Schiffe könnten dieses problemlos erreichen. Einige kamen zurück und berichteten gar, sie hätten den Seeweg zum Bewusstsein-Atlantis gefunden – doch wirklich überzeugen konnten die Rückkehrer die daheim Gebliebenen bisher nicht und mancher äusserte den Verdacht, den Reisenden sei die endlos weite Reise auf dem Ozean der Spekulation in den Kopf gestiegen.

Doch seit kurzem ereignet sich eine vulkanische Aktivität im Südwest-Ozean. Hot-Spots, welche das philosophische Tiefengestein der Introspektion aufschmelzen, bilden eine Inselkette – die first-person-neuroscience-Inseln –, welche den Weg ins sagenhafte Bewusstseins-Atlantis weisen könnte. Einige Hirnforscher wollen diese besiedeln, um das innere Erleben von Bewusstsein mit objektiv messbaren Vorgängen über das Gehirn verbinden zu können. Wären da nur nicht diese weisen Männer und Frauen, welche als einsame Wanderer alle Kontinente des Hirnplaneten durchstreifen und von der Vergeblichkeit, in Richtung Bewusstsein-Atlantis aufbrechen zu wollen, warnen. Gewiss werden diese „Philosophen“ genannten Weisen oft als hoffnungslos altmodisch verspottet – doch tief im Innern bleibt bei so manchem Hirnforscher die Ungewissheit, ob das Meer der Spekulation nicht doch tektonische Platten verbirgt, welche nie an die Oberfläche des Hirnplaneten gelangen.

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