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Rippe: Organspende ist eine moralische Pflicht

Zur Person: Klaus Peter Rippe studierte Philosophie, Geschichte und Ethnologie in Göttingen und arbeitete nach der Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Saarbrücken und Mainz, wo er sich auf bioethische Fragen konzentrierte. Seit sechs Jahren ist er Oberassistent am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Tier-, Umwelt- und Gen-Ethik sowie in der politischen Philosophie. Rippe ist Mitglied der eidgenössischen Ethik-Kommission für die Gentechnik im ausserhumanen Bereich.

Bieler Tagblatt: Herr Rippe, sollten Sie persönlich als Bioethiker einen Organspendeausweis haben?

Rippe: Man könnte sagen, auch ein Ethiker müsse nicht immer das tun, was er für moralisch richtig hält. In diesem Fall kann ich aber sagen, dass ich einen solchen Ausweis besitze.

Gibt es eine Pflicht zur Organspende?

Man muss zwei Arten von Pflichten unterscheiden: Es gibt einerseits die erzwingbaren Pflichten, andererseits solche, die moralisch zwar geboten sind, aber nicht durchgesetzt werden dürfen. Organspende gehört sicherlich in die zweite Kategorie.

Bei der Organspende von Toten kann aber Leid von noch lebenden Menschen massiv gelindert werden. Welche Gründe können Sie als Ethiker anführen, dass Organe nicht zur Verfügung gestellt werden dürfen?

Man besitzt den eigenen Körper in einem anderen Sinn als Gegenstände. Hier spielen weltanschauliche und religiöse Komponenten eine wichtige Rolle, die einen Zwang schwer durchsetzbar machen würden. Dazu kommen psychologische Faktoren: Einerseits konfrontiert man sich nicht gerne mit der Frage der Organspende, weil damit natürlich der eigene Tod zum Thema wird. Andererseits herrscht gegenüber der Medizin auch ein gewisses Misstrauen insofern, dass Organe verkauft werden könnten, was als unmoralisch gilt.

Bei der Regelung der Organentnahme werden primär zwei Varianten unterschieden: Die Zustimmungsregel - der Betroffene muss die Organentnahme zu Lebzeiten explitzit erlaubt haben - und die Widerspruchsregel - der Betroffene muss sich explizit gegen Organentnahme geäussert haben. Wie beurteilen Sie diese beiden Varianten?

Bei der Widerspruchsregelung geht man davon aus, dass der Körper eigentlich nicht mir als Person gehört, sondern jemand anderem. Dieser kann auch über „meine“ Organe verfügen, ausser ich habe zuvor explizit Widerspruch eingelegt. Bei der Zustimmungsregel ist die Autonomie der Person besser geschützt, so dass ich diese vorziehen würde. Aus diesem Grund bin ich auch der Ansicht, dass die Angehörigen nicht das Recht haben sollten, den Entscheid zur Organspende für die betreffende Person treffen zu dürfen. Dies aus zwei Gründen: Erstens sind Angehörige durch den Todesfall emotional erschüttert, was durch eine solche Entscheidung verstärkt würde. Zweitens ist gar nicht klar, dass die Angehörigen den Willen der verstorbenen Person wirklich vertreten. Man schuldet den Angehörigen zwar Pietätspflichten, indem etwa der Leichnam zur Bestattung freigegeben wird. Hingegen gehört die Leiche auch nicht den Angehörigen.

Aus den oben angesprochenen psychologischen Gründen setzten sich aber viele gar nicht mit der Frage der Organspende auseinander. Wirft die Haltung, die Angehörigen dürften nicht entscheiden, nicht grosse praktische Probleme auf? Der Mangel an Organen würde akut verschärft?

Man muss die Zustimmungsregel mit einer verstärkten Information der Bevölkerung verbinden, indem man die Leute beispielsweise aufklärt, wie einfach man zu einem Organspendeausweis kommt. Man könnte sich vorstellen, dass jeder Unterlagen zur Organspende zugeschickt bekommt - mitsamt einem Organspendeausweis, den man dann mit sich herumtragen kann, wenn man dies will. Man muss die Leute mit diesem Entscheid konfrontieren, sie aber frei entscheiden lassen.

Was soll man tun, wenn Unmündige Organe spenden?

Im Fall von Kindern kann stellvertretend entschieden werden, und zwar von den Eltern. Das Problem ist, dass die emotionale Erschütterung in diesem Fall meist noch stärker ist als sonst. Es wäre wohl richtig, wenn sich Eltern schon vorher darüber unterhalten würden, was sie in einem solchen Fall tun würden. Bei anderen Unmündigen wie etwa geistig Behinderte ist hingegen grösste Vorsicht angebracht.

Im Fall der Lebenspende - etwa von Nieren oder von Knochenmark - kommt das zusätzliche Problem, dass auf den potentiellen Spender massiver Druck ausgeübt werden könnte. Wie beurteilen Sie dieses Problem?

Die ethische Problematik ändert durch diese Aspekte nicht: Auch hier existiert eine moralische Pflicht zur Spende, die nicht erzwingbar ist. Der moralische Druck selbst lässt sich nicht wegdiskutieren, er ist ja bereits da, wenn eine Person damit konfrontiert wird, dass sie der geeignete Spender wäre. Die Ausübung des Drucks ist jedoch dann nicht mehr legitim, wenn die betroffenen Parteien ein Gespräch geführt haben und der potentielle Spender danach abgelehnt hat.

Ein weiteres diskutiertes Problem ist die Frage nach dem Todeszeitpunkt. Heute gilt der Hirntod als Kriterium, um den Tod einer Person festzustellen. Kritiker behaupten, man habe dieses Kriterium nur deshalb eingeführt, damit Organspende machbar wird. Was halten Sie von diesem Argument?

Die Kritiker des Hirntods argumentieren sehr emotional und mit starkem Misstrauen gegenüber der Ärzteschaft. Das Hirntodkriterium scheint mit deshalb gerechtfertigt, weil ohne Gehirn keine Person mehr da ist. Man hat das Kriterium Ende der 60er Jahre eingeführt, weil eine Reihe guter Argumente dafür sprach. Dass damit die Organtransplantation erleichtert wird, ist ein positiver Nebeneffekt, nicht aber der Grund, warum das Hirntodkriterium eingeführt wurde. Dass dieses Kriterium der Organtransplantation nützt, ist wiederum kein Argument gegen den Hirntod.

Angesichts des Mangels an Spenderorganen wird die Frage der Verteilung zentral. Welche Prinzipien sollten dabei eine Rolle spielen?

Die Gegner des Verfassungsartikels über Transplantationsmedizin argumentieren, Verteilungsgerechtigkeit sei in diesem Fall nicht möglich und deshalb müsse man gar nicht darüber diskutieren. Dieses Argument ist schlicht dumm. Knappheit von Organen ist nunmal vorhanden. Dass man hier totale Gerechtigkeit nicht erreichen kann, heisst nicht, dass man nicht handeln soll. Das Problem besteht aber darin, dass die Frage der Verteilung von Organen und anderer medizinischer Ressourcen früher gar nicht gestellt wurde, sie war tabuisiert. Deshalb ist die Diskussion in diesem Bereich unterentwickelt. Man muss aber diskutieren und man muss letztlich auch verteilen und selektieren, auch wenn das unpopulär ist. Bezüglich der Prinzipien wird man in erster Linie medizinische Kriterien anwenden, beispielsweise: Wie klein ist das Risiko einer Abstossung des Organs? Gibt es andere Alternative wie künstliche Nieren?

Was tut man aber, wenn die medizinischen Erfolgsaussichten gleichwertig sind und trotzdem selektiert werden muss: Ist es etwa gerechtfertigt, einem Manager ein neues Herz zu verweigern, weil er sich selbstverschuldet überarbeitet hat und dadurch sein eigenes Herz kaputt ging?

Nicht der Blick in die Vergangenheit sondern in die Zukunft sollte hier entscheiden. Anders gesagt: Nicht die - schwierig zu klärende - Frage, inwiefern jemand dafür verantwortlich ist, dass er oder sie ein neues Organ braucht, sollte den Ausschlag geben. Wichtig ist, was die betroffene Person durch die Transplantation gewinnt. Die Qualität und die Dauer des „neuen Lebens“ sollte bei der Selektion wichtig sein, sind die medizinischen Aspekte geklärt. Anders gesagt: Nicht „wer verdient es?“, sondern „wem bringt es mehr?“ ist die entscheidende Frage.

Ist man da nicht sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, man unterscheide zwischen lebenswerten und unwertem Leben?

Wir bewerten permanent die Qualität des Lebens. Schon die Tatsache, dass wir Kinder erziehen, zeigt das. Man meint mit diesem Vorwurf, dass die Bewertung der Qualität des Lebens mit dem Prinzip der gleichen Achtung aller Menschen in Konflikt gerät. Betrachten wir nun folgendes Problem: Für zwei Personen mit vergleichbaren medizinischen Erfolgsaussichten steht nur ein Organ zur Verfügung. Beide haben das Recht auf Leben doch nur einer wird überleben - man muss also entscheiden. Dann braucht man ein unparteiisches Prinzip, um diesen Fall zu regeln. Ich sehe keinen besseren Weg als die Beachtung der Frage „wem bringt es mehr?“.

Ist Organhandel in jedem Fall verwerflich?

Ich glaube nicht, dass es in sich schlecht ist, wenn man Teile seines Körpers - beispielsweise Blut - verkauft. Trotzdem: Wenn ich die Wahl hätte zwischen einer Welt, in der Organe verschenkt werden und einer Welt, in der Organe verkauft werden, würde ich sicher erstere wählen. Damit Organhandel ethisch gerechtfertigt werden kann, müssten sehr viele Zusatzbedingungen erfüllt sein: Es muss wirklich der Spender das Geld erhalten, die Organentnahme müsste medizinisch korrekt verlaufen, es dürfte keinen Schwarzmarkt geben, es dürfte keine „Zwangsspende“ geben etc. Auch wenn sich die meisten Erzählungen über Organraub als Mythen erwiesen haben, sind diese Bedingungen heute nicht garantierbar. Deshalb ist Organhandel abzulehnen.

Die Organtransplantation kann ja auch unter dem Gesichtspunkt der Kosten beurteilt werden. Ist es richtig, teure Transplantationen durchzuführen, wenn man etwa an die teilweise prekäre medizinische Versorgung in der Dritten Welt denkt?

Man kann diese Kostenüberlegung durchaus machen, doch sie sollte dann nicht nur den Bereich der Medizin betreffen. Wenn schon finanzieller Verzicht zugunsten der Dritten Welt geleistet werden soll, dann in allen Bereichen und nicht nur bei der Organtransplantation. Zudem gilt, dass neue medizinische Möglichkeiten vor allem in relativ privilegierten Ländern entwickelt werden können, weil diese Forschung teuer ist, später aber weit mehr Menschen von diesen Mitteln profitieren können. Wenn wir auf unsere Technik verzichten, nehmen wir den anderen die Möglichkeit, diese später zu erwerben. Schliesslich gibt es gute Gründe dafür, dass die Pflicht zu helfen sich in erster Linie auf lokal begrenzte Gebiete erstrecken sollte. Das Problem der Verteilungsgerechtigkeit stellt sich also in unserem Fall zuerst einmal für die Schweiz. Dies schon allein aus praktischen Gründen, weil Handlungen in einem begrenzten Raum besser durch Wissen abgesichert und damit effektiver ist. [könnten Sie das an einem Beispiel erläutern].

Viele ethischen Probleme der Transplantationsmedizin sind eine Folge des Organmangels. Rechtfertigt dies Forschung im Bereich Xenotransplantation (die Übertragung tierischer Organe auf Menschen)?

Ich halte es für dringend notwendig, Alternativen zu diskutieren. Es ist illusorisch zu hoffen, dass die Organspendebereitschaft dereinst so gross sein wird, dass der Bedarf gedeckt werden kann. Damit ist aber nicht gesagt, dass jede der vorgeschlagenen Alternativwege auch begangen werden sollte. Gerade die Xenotransplantation ist derzeit mit grossen Risiken behaftet, etwa durch die Möglichkeit, dass tierische Viren auf den Menschen übertragen werden könnten. Das ist kein prinzipielles Argument gegen die Xenotransplantation, macht aber deutlich, dass noch ein grosser Forschungsbedarf besteht.

Wir haben jetzt eine Reihe schwieriger ethischer Probleme betrachtet, welche die Transplantationsmedizin mit sich bringt. Welche Rolle hat überhaupt der Philosoph in dieser Debatte?

Ich sehe die Rolle des Philosophen darin, dass er nachdenkt, wo andere mit rein rethorischen Mitteln überzeugen wollen. Er oder sie sollte Argumente vorbereiten und bewerten, die in der Debatte eine Rolle spielen. Dazu muss der Ethiker aber die Welt der Universität verlassen und an den relevanten Stellen seinen Standpunkt einbringen.

Vielleicht tut er ja das dort, wo am meisten gezahlt wird. Oder anders gefragt: Gibt es Hofethiker?

Dieser Vorwurf wird oft erhoben, wenn jemand etwas sagt, das den anderen nicht passt. Tatsächlich gibt es bei den Ethikern die unterschiedlichsten Standpunkte und es ist natürlich, dass die Paare sich finden: Novartis wird Ethiker fragen, deren Standpunkte mit den eigenen verträglich sind - genauso, wie dies beispielsweise die Gentechkritiker machen.

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