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Wie kommt das Gen zum Verhalten?

Neurowissenschaft transzendiert die Organisationsebenen des Lebens

Vom Molekül bis zum Sozialverhalten: Kein anderer Bereich der Life Sciences überspannt derart viele Organisationsebenen des Lebens wie die Neurowissenschaft. Dieses Arbeiten auf unterschiedlichen Ebenen macht den Reiz der modernen Hirnforschung aus, verweist aber auch auf die grosse interdisziplinäre Herausforderung, welche viele Forschungsfragen der Neurowissenschaft mit sich bringt. Beispielhaft zeigt sich das an der Erforschung der Zusammenhänge zwischen Gedächtnis und Verhalten – einem der Schwerpunkte der Forschung am Zentrum für Neurowissenschaften (ZNZ) in Zürich.

Seit nunmehr einigen Jahren geniesst die Neurowissenschaft in der öffentlichen Wahrnehmung eine ungebrochene Popularität. Sie löste damit die Genomforschung ab, deren Resultate im Zug des 1990 begonnenen Humane Genome Project – die „Entschlüsselung“ des menschlichen Erbguts, die 2001 ihren vorläufigen Abschluss fand – noch vor wenigen Jahren regelmässig die Wissenschafts-Schlagzeilen beherrschten. Auf der Ebene der Forschung selbst sind die Grenzen natürlich fliessender. So haben die Methoden der Genforschung längst Eingang in die Neurowissenschaft gefunden – was mit ein Grund ist, dass man die Neurowissenschaft als Teil der Life Sciences bezeichnet. Mit dieser Einordnung geht zuweilen auch eine Bewertung einher, wie man die Phänomene der Hirnforschung vorzugsweise untersuchen soll: Verhalten soll letztlich als Ergebnis der genetischen und zellulären Organisation des Nervensystems verstanden werden. Dieses methodische Programm erfasst freilich nicht alle der zahlreichen wissenschaftlichen Traditionen, die man der Hirnforschung zuordnen kann. Insbesondere das Verständnis und der Umgang mit psychischen Krankheiten dürfte mit diesem methodischen Ansatz Mühe haben – was hier aber nicht weiter ausgeführt werden soll.

Was ist denn nun „Neurowissenschaft“ und welche Entwicklungen kennzeichnen ihren aktuellen Stand? Für die Beantwortung dieser Fragen muss man sich nicht in der Vielzahl an Disziplinen verlieren, die Beträge zu diesem nur schwer eingrenzbaren Forschungsfeld liefern. Die Charakterisierung des Nobelpreisträgers Eric Kandel, wonach Neurowissenschaft das Verhalten eines Tieres (oder des Menschen) durch Struktur und Prozesse im Gehirn und Nervensystem erklären will, trifft das Selbstverständnis der meisten Hirnforscherinnen und Hirnforscher. Damit wird gleichzeitig deutlich, über wie viele Organisationsebenen des Lebens sich die Neurowissenschaft erstreckt: die Spannweite reicht von Molekülen über Zellstrukturen (z.B. Synapsen, den Verbindungsstellen zwischen Neuronen), Zellen (Neuronen und Gliazellen), Zellverbänden und dem Gehirn bis hin zur Reaktion des Nervensystems auf Umweltreize und dem Sozialverhalten.

Bildgebung als zentrale Innovation

Die Ränder dieses Spektrum – Genetik und Sozialverhalten – haben dabei besonders an Konturen gewonnen. So hat die social neuroscience mit dem Universitären Forschungsschwerpunkt „Grundlagen Menschlichen Sozialverhaltens: Altruismus und Egoismus“ gar einen ihrer weltweiten Schwerpunkte in Zürich. Nachfolgend soll aber die eher molekularbiologisch orientierte Neurowissenschaft vorgestellt werden, die auch näher am üblichen Verständnis von Life Science ist.

Die Möglichkeit, Prozesse auf allen Ebenen der biologischen Organisation sichtbar zu machen, hat sich dabei als die zentrale methodische Innovation für die Neurowissenschaft erwiesen. Man kann diese aber nicht auf eine einzige Methode und einen einzigen Zeitpunkt festmachen. Gemeint sind also nicht nur Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI), welche nun schon seit einigen Jahren das Bildmaterial für die Popularisierung der Hirnforschung liefern. Mindestens ebenso bedeutsam sind Methoden zur Visualisierung von Prozessen auf der zellulären und subzellulären Ebene. Die molekulare Bildgebung beispielsweise erlaubt es, Trägermoleküle wie Antikörper oder Peptide, die sich spezifisch an krankheitsbedingte, veränderte Zellstrukturen binden, mit einem Signalmolekül zu koppeln, das von einem entsprechenden bildgebenden Verfahren erkannt und dargestellt werden kann. Durch solche und andere Verfahren kann die Dichte von Ionenkanälen auf der Membran einer Nervenzelle ermittelt werden, die Bildung sub-zellulärer Strukturen wie beispielsweise Synapsen in vivo verfolgt werden, oder Markierstoffe können entlang der Verbindungen zwischen Nervenzellen wandern, womit ein funktionelles Netz von Neuronen ermittelt werden kann.

Verfahren wie PET, MRI und fMRI wiederum erlauben die nichtinvasive Beobachtung der Aktivität ganzer „Funktionsmodule“ im Gehirn – was es beispielsweise erlaubt, die Wirkungsweise neuer Psychopharmaka auf das Gehirn zu prüfen. Durch technische Innovationen und Kopplung mit anderen Verfahren wie EEG werden zunehmend höhere räumliche und zeitliche Auflösungen erreicht, so dass derartige Methoden auch eine (funktionelle) Bildgebung bei sehr kleinen Gehirnen (z.B. von Ratten und Mäusen) erlauben. Dabei darf man aber nicht ausser acht lassen, dass Bildgebung (insbesondere fMRI) hohe methodische Anforderungen bei nicht immer gleichermassen gesicherter Aussagekraft stellt.

Wenn Mäuse sich nicht mehr erinnern …

Wie lassen sich diese methodischen Innovationen in neue Forschungsresultate umsetzen, welche die ganze Spannweite vom Genom bis zum Verhalten abdecken? Dies zeigt exemplarisch die Arbeit von zwei Wissenschaftlerinnen des ZNZ, welche in der Erforschung der neurobiologischen Grundlagen des Gedächtnisses aktiv sind. So untersucht Irene Knuesel am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Zürich den Einfluss von Alterungsprozessen auf das Gedächtnis. „Uns interessiert, wie sich Alterungsprozesse auf der Ebene der Synapsen auswirken. Damit wollen wir die für Demenzerkrankungen typischen Gedächtnisverluste besser verstehen“, meint sie. In der Erforschung von Alzheimer – der bekanntesten Demenzerkrankung des menschlichen Gehirns – ist seit längerem bekannt, dass bestimmte Ablagerungen von Proteinen an den Synapsen deren Funktion stören und letztlich zum Absterben von Nervenzellen führen. Erforscht wurden bisher vorab Varianten von Alzheimer mit einer klar genetischen Ursache, für die ein Maus-Modell geschaffen wurde – eine transgene Maus mit einem menschlichen Gen, das Alzheimer-typische Ablagerungen an den Synapsen verursacht. Hingegen sind nur wenige Prozent aller Alzheimer-Erkrankungen beim Menschen das Resultat eines solchen „Alzheimer-Gens“. Knuesel will deshalb den Alterungsprozess im Gehirn weit umfassender verstehen.

Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Maus – was die Frage nach sich zieht, ob es denn überhaupt demente Mäuse gibt. Knuesel meint dazu: „Normale Mäuse entwickeln zwar kein Alzheimer im strikten neuropathologischen Sinn. Es zeigen sich aber auf der Ebene des Verhaltens wie auch auf jener der Synapsen klare Anzeichen von Demenz.“ Der Alterungsprozess setzt bei Mäusen in der Regel nach einem Lebensjahr ein und die Tiere werden selten älter als zwei Jahre. Sie werden dicker, verlieren Haare und haben zunehmend Schwierigkeiten beim Sehen und Hören – zeigen also typische Alterserscheinungen. Ihre Gedächtnisfähigkeit – für Knuesel das in Verhaltensexperimenten erfassbare Element von Demenz – schwindet aber unterschiedlich rasch. Nicht alle alten Mäuse sind demnach gleichermassen „dement“.

Ihr Gedächtnistest für Mäuse schliesst neuere Erkenntnisse der Gedächtnisforschung mit ein. So haben Demenzkranke Mühe, sich an etwas Gelerntes zu erinnern, wenn sie nicht mehr in der vertrauten Umgebung sind. Übersetzt auf Mäuse sieht das Verhaltensexperiment wie folgt aus: Die alten Mäuse werden in einer definierten Umgebung (einem Käfig mit einer bestimmten Form) mit einem bekannten und einem neuen Gegenstand konfrontiert. Die Zeit, welche die Mäuse mit dem Beschnuppern des Gegenstands verbringen, ist ein Mass dafür, wie bekannt ihnen dieser Gegenstand vorkommt. Treffen die Mäuse in einer für sie neuen Umgebung auf das gleiche Paar an Gegenständen, können demente Mäuse den zuvor gelernten Gegenstand nicht wiedererkennen. Nach dem Tod der Tiere wird mittels molekularer Bildgebung festgestellt, wie die beobachteten Verhaltensunterschiede mit Art, Ort und Häufigkeit der synaptischen Ablagerungen korrelieren. Durch diese und andere Untersuchungen soll so nach und nach der molekulare Prozess verstanden werden, der zu den Demenz verursachenden Ablagerungen führt. „Wir vermuten, dass diese Prozesse für Demenzerkrankungen typisch sind und damit auch zu therapeutischen Ansatzpunkten beim Menschen führen können“, so Knuesel.

… oder nicht mehr vergessen können

Auch Isabelle Mansuy, Wissenschaftlerin am Institut für Hirnforschung der Universität Zürich, sucht nach Verbindungslinien zwischen den Vorgängen auf zellulärer Ebene und dem Verhalten der Tiere. Sie geht dabei noch eine Stufe tiefer, indem sie auf die Regulationsvorgänge des Genoms fokussiert. „Werden Gedächtnisinhalte dauerhaft abgelegt, muss sich das letztlich auf der Ebene der Regulierung des Genoms widerspiegeln“, meint sie. Ihr Fokus ist die so genannte Epigenetik, die Untersuchung der vererbbaren Veränderungen der Genregulation und damit der Genexpression (die Ausprägung der genetischen Information). Bekanntlich befindet sich im Kern einer Zelle nicht nur das Erbmaterial in Form von DNA, sondern auch andere Proteine, welche zusammen mit der Erbsubstanz das so genannte Chromatin bilden. Die Struktur des Chromatins bestimmt, grob gesagt, welche genetische Information wie stark abgelesen werden kann. Der epigenetische Zustand einer Zelle – also gewissermassen der Status der Regulation des Genoms – wird als Epigenom, bezeichnet.

Für Neuronen sind solche Prozesse von grosser Wichtigkeit: Wenn Gedächtnisinhalte langfristig abgespeichert werden, muss sich dazu die Struktur der Nervenzellen und deren synaptische Verbindung verändern. Dies bedingt die Produktion neuer Proteine. Umwelteinflüsse (z.B. ein neuer Gegenstand, den eine Maus lernt) greifen so auf die molekulare Ebene ein, indem sie zu einer Veränderung der Genexpression führen. Dies kann gar zu dauerhaften Veränderungen am Epigenom führen, die vererbt werden können.

Nebst diesen epigenetischen Veränderungen, die Mansuys Gruppe derzeit intensiv untersucht, spielen auch auf der Ebene von Synapsen ganz bestimmte Moleküle eine zentrale Rolle bei der Gedächtnisbildung. Mansuy untersucht hier die Bedeutung von Calcineurin – ein Molekül der Familie der Protein-Phosphatasen. Diese hat in der Gedächtnisbildung eine wichtige Rolle: sie ermöglicht es, zu vergessen. Dazu reichert sich z.B. Calcineurin in Synapsen an und blockiert diese. Im Alter lagern sich Protein-Phosphatasen in Synapsen verstärkt an und können deren Funktion generell blockieren, was mit zu den Gedächtnisproblemen alter Menschen führen kann.

Natürlich gibt es Erinnerungen, die ein Organismus nicht vergessen sollte. Hier müsste demnach die Aktivität von Calcineurin rasch unterbunden werden. Um dies nachzuweisen, fokussierte Mansuy in ihren Studien mit Mäusen emotionale Gedächtnisinhalte. Solche haben für einen Organismus sehr wichtige Funktionen, treten Sie doch bei Verhaltensweisen auf, die gut oder schlecht für ein Tier sind und damit markieren, was man künftig tun oder vermeiden sollte. Konkret ging es um das Erlernen einer Geschmacks-Aversion. Mäuse bekamen dazu den künstlichen Süssstoff Saccharin zusammen mit einer Injektion von Lithiumchlorid, das Übelkeit auslöst, verabreicht. Der an sich süsse aber dennoch neuartige Geschmack von Saccharin war für die Mäuse demnach mit einem sehr unangenehmen Erlebnis verbunden und sie lernten, Saccharin zu meiden. Durch ausgeklügelte Experimente und unter Einbezug molekularer Bildgebung konnte Mansuy zeigen, dass die Aktivität von Calcineurin während dieses Lernvorgangs rasch und selektiv in der Amygdala – jener Hirnregion, in der emotionale Gedächtnisinhalte gespeichert werden – blockiert wird. In einem nächsten Schritt wird nun untersucht, ob durch gezielte Aktivierung von Calcineurin ein selektives Vergessen von emotionalen Gedächtnisinhalten möglich ist. „Dies könnte ein Weg eröffnen, um traumatische Erinnerungen, die sich tief in unser Gedächtnis eingegraben haben, endlich vergessen zu können“, meint Mansuy.

Beide Beispiele zeigen, wie die komplizierten Mechanismen, welche das Zusammenspiel von Genen und Verhalten im Gehirn und Nervensystem steuern, entschlüsselt werden können. Doch Knuesel wie Mansuy sind sich bewusst, dass aus ihren Forschungen nicht leichtfertig therapeutische Schlussfolgerungen für den Menschen gezogen werden sollten. Vielmehr empfinden sie eine gewisse Erfurcht vor der Komplexität eines Systems, dem sie ihr Leben als Forscherin widmen wollen.

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