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Macht und Ohnmacht der Gene

Dies ist eine Reise in das geheimnisvolle Land der Gene. Jede Form von Leben kommt ohne sie nicht aus und wohl gerade deshalb macht das Manipulieren von Genen Angst. Hat vielleicht Gott bei der Schöpfung der Welt lediglich die Gene geliefert, um die Vielfalt der lebenden Wesen zu schaffen? Was bestimmte die Gene in uns und welche Spielraum lassen sie dem „freien Individuum“? Schon hier wird schnell klar: Die Frage nach der Bedeutung der Gene ist eine alte Frage im neuen Gewand: Was ist die Natur des Lebens, des Menschen?

Zu Beginn unserer Reise stösst man unweigerlich auf das seltsame Kürzel DNS (der Vormarsch des Englischen lässt auch bei uns vermehrt die Abkürzung DNA auftauchen). DNS oder Desoxyribonucleinsäure ist der Name für ein fadenförmiges, wendeltreppenartiges Molekül. Der lange Name verwirrt mehr als er erhellt, doch ein scheuer Blick in die Molekularbiologie ist unumgänglich, will man die Bedeutung von Genen aufklären. Dabei muss - aller Kritik an der Gentechnologie zum Trotz - gesagt werden: Die Aufklärung des „genetischen Mechanismus“ ist eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen dieses Jahrhunderts. Sie knüpfte letztlich an die Frage an: was ist überhaupt Leben? Offensichtlich sind wir von einer unglaublichen Vielfalt von Lebensformen umgeben. Die einzelnen Varianten zeigen sich - zumindest über gewisse Zeiträume - aber erstaunlich beständig: Hunde gebären Hunde und nicht Katzen. Der Samen eines Baumes ergibt wieder einen Baum, wenn man ihn wachsen lässt. Ausserdem laufen die Vielzahl von Vorgängen in einem Lebewesen offenbar kontrolliert ab. Das Leben hat also einen Mechanismus gefunden, der eine gewisse Konstanz erlaubt - sowohl bezüglich Struktur als auch bezüglich der Prozesse, die in den verschiedenen Lebewesen ablaufen.

Der Beginn des Lebens ist also entscheidend mit der Innovation verbunden, die Information, wie Leben „funktionieren“ soll, weitergeben zu können. Man nimmt an, dass am Anfang des Lebens ein recht simpler chemischer Zyklus stand, wo sich Moleküle selbst reproduzieren konnten. Über den Weg zur ersten eigentlichen lebenden Zelle wird auch heute nur spekuliert. Man weiss heute, dass sich folgendes etabliert hat: Die Struktur und die Lebensprozesse in Zellen wird im wesentlichen von verschiedenen Eiweissen (Proteine) bestimmt. Die Proteine überdauern den Kreislauf von Werden und Vergehen aber nicht. Vielmehr gibt es für jedes Eiweiss ein „Bauplan“ - in Form von DNS. Gleichsam in dieser „Bibel des Lebens“ steht geschrieben, was jede Lebensform braucht, um das sein zu können, was sie ist. Die Information ist in der Struktur der DNS verborgen und Vererbung bedeutet letztlich die Weitergabe dieser Struktur - und damit der Information. Bestimmte Abschnitte der DNS bilden gleichsam die Vorlage für ein bestimmtes Protein. Ein raffinierter chemischer Prozess sorgt für die Übersetzung der DNS in das Eiweiss. Dabei gibt es nur eine gültige Form von Übersetzung, der „gentische Code“ ist universell. Damit ist aber noch längst nicht alles gesagt: Je nach Lebensform hat nur ein geringer Teil der vorhandenen DNS überhaupt eine Bedeutung, d.h. ist die Vorlage eines Proteins. Bei komplizierten Lebenwesen wie Mäuse und Menschen sorgen zudem ausgeklügelte Mechanismen dafür, dass nur die gerade benötigten Proteine produziert werden. Eine Leberzelle hat schliesslich Alkohol abzubauen und muss nicht die komplizierte Struktur einer Nervenzelle entwickeln, die im Kollektiv den unseligen Entscheid zum Alkoholkonsum getroffen haben. So „weiss“ also jede Zelle unseres Körpers alles - sprich sie enthält das gesamte Erbgut -, braucht aber meist nur ein Bruchteil der Information. Der Prozess von der befruchteten Eizelle zum Baby geht einher mit dieser Spezialisierung der Zellen - ein Vorgang, der auch heute noch hartgesottene Molekularbiologen in Staunen versetzt.

Wo sind nun die Gene in dieser ganzen Geschichte? Das Problem ist, dass eigentlich zwei Geschichten erzählt werden müssen und darin verbirgt sich viel von der Verwirrnis, wenn heute von Genen gesprochen wird. Die heutige gültige ansicht ist in der obigen Geschichte angesiedelt. Für Molekularbiologen ist ein Gen demzufolge jener Abschnitt der DNA, der die Vorlage für ein bestimmtes Eiweiss darstellt. Hier verbergen sich viele Schwierigkeiten: So kann ein Gen gleichsam „zerstückelt“ auf einem DNS-Faden vorliegen. Auch kann ein DNS-Abschnitt die Vorlage für verschiedene Gene darstellen, indem das Ableseraster geändert wird. Es können Veränderungen im DNS-Molekül auftauchen (Mutationen, meist von aussen verursacht). In manchen Fällen wird das Gen unbrauchbar, d.h. das Protein kann seine Funktion nicht mehr erfüllen. In anderen Fällen bleibt das Gen erhalten. In seltenen Fällen entsteht sogar etwas neues, besseres. Dass dies geschehen kann, macht Evolution überhaupt möglich. Die Rede von einem Gen macht also nur dann Sinn, wenn man den ganzen Prozess von der DNA bis zum Eiweiss im Auge behält. „Nackte“ DNS ist kein Gen, sondern nur Chemie. Dahinter verbirgt sich ein interessanter philosophischer Gedanke: Ein Buch, das nie gelesen werden kann, ist eigentlich nur eine sinnlose Aneinanderkettung von Buchstaben. Erst der Leser macht das Buchstaben zum Buch und erst eine lebende Zelle macht aus DNS ein Gen.

Die andere Gen-Geschichte fing einige Jahrzehnte früher an. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant erhoffte sich einst einen „Newton des Grashalms“. Dieser sollte ähnlich Licht in die Vorgänge von Wachsen und Vererben geben, wie dies einst Isaac Newton in der Physik getan hatte. Ein wichtiger Name auf dem Weg zu diesem Grashalm-Newton ist Gregor Mendel, der Mitte des letzen Jahrhunderts Untersuchungen zur Vererbung von Eigenschaften machte. Den Forschern war damals klar, dass die erkennbaren Eigenschaften von Lebensformen in irgendeiner Form „gespeichert“ sein mussten. Der Däne Wilhelm Johannsen prägte 1909 das Wort „Gen“ für diese Speichereinheit von Eigenschaften. Damit sollte sprachlich bequem eine Verbindung zwischen den sichtbaren Eigenschaften und den unsichtbaren Erbfaktoren geschaffen werden. Johannsen war sich der dabei vorhandenen Ungenauigkeiten durchaus bewusst, denn über die genauen Zusammenhänge zwischen Erbgut und Eigenschaft wusste man damals noch nichts. Heute weiss man immerhin einiges mehr, spricht aber von Genen wie man es zu Beginn des Jahrhunderts gemacht hatte. So ist es schlicht Unsinn zu behaupten, für jede Form von Verhalten gäbe es ein Gen. Gene sorgen eigentlich nur dafür, dass Proteine in Zellen vorhanden sind. Was dies für das Verhalten eines Menschen (oder von was auch immer) bedeutet, muss in jedem Fall gesondert geprüft werden.

Will man nun die Frage stellen, inwiefern „bestimmen“ Gene die Natur des Menschen, so mus man von einer weiteren Idee Abschied nehmen: Spezifisch „menschliche Gene“ gibt es mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht. Viele von Genen gesteuerten Lebensvorgänge in Zellen sind sehr elementar. entsprechend finden sich diese Gene fast überall. Die Gesamtheit der Gene des Menschen - sein Erbgut oder sein Genom - stimmt mit jener von Hefezellen zu gut 30 Prozent überein. Die genetische Ähnlichkeit des Menschen zu bestimmten Affenarten beträgt vermutlich teilweise über 95 Prozent. Verschiedene Menschen unterscheiden sich nur in etwa einem Prozent ihrer Gene - und diese mickrige Zahl lässt Platz für so viel Vielfalt. Gene sind mit Sicherheit auch kein starres Programm. Das Bild des Erbgut als Computerprogramm ist falsch. Fazit: Ohnmacht der Gene

Doch wo verbirgt sich nun die macht der Gene? Warum suchen Forscher nach „Schwulen-Gene“ und „Aggressions-Gene“. Offenbar liegt der Streit auf einer anderen, philosophischen Ebene. Der alte Streit über Umwelt oder Gene. Hier sind zwei Widersprüche vorhanden. Gene: letztlich findet man nur Korrelationen zwischen Gene und Verhalten. Sicher hat Verhalten auch biologische Ebene. Umwelt: man verwirft das biologistische Bild und braucht es doch, um gegen die Gegner anzukämpfen.

Ein Problem bleibt, je nach Problem. Manchmal gibt es Gene. die sind bedeutend, manchmal nur wahrscheinlichkeit. Was passiert, wenn man diese genetische Ungerechtigkeit dereinst feststellen kann. Wie soll die Gesellschaft reagieren. Da liegt eine grosse Herausforderung.

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