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Sozialpolitik: Was bringt die Zukunft? Hoffen auf eine nachhaltige Entwicklung

Wie sieht eine nachhaltige Schweizer Sozialpolitik für das 21. Jahrhundert aus? Mit dieser Frage hat sich kürzlich die Schweizer Ökonomenzunft auseinandergesetzt - und eine Vielfalt von Antworten geliefert. Der Versuch eines Überblicks.

Alles soll jetzt ja „nachhaltig“ werden. Dieser Modebegriff durchtränkt derzeit so ziemlich alle politischen Diskussionen. So erstaunt es nicht, dass die Schweizerische Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft sich an ihrer Jahrestagung der Frage verschrieben hat, wie eine nachhaltige Schweizer Sozialpolitik für das 21. Jahrhundert geschaffen werden kann. Zwei Tage lang präsentierte Ende März die Garde der Schweizer Ökonomen derart viele Antworten, dass zwar nicht unbediongt ein kohärentes, dafür aber vielgestaltiges Bild der zukünftigen Schweizer Sozialpolitik gezeichnet werden kann.

„Sozialpolitik“ steht dabei für ein ganzes Bündel an Versuchen der Gesellschaft, mit den Konstanten menschlichen Lebens Armut, Alter und Krankheit fertig zu werden. Die Altersversorgung wurde institutionell geregelt, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen eingerichtet, Sozialhilfe eingeführt. Dieser vor allem in den westlichen Ländern doch ganz ansehnliche Apparat an Sicherungseinrichtungen sieht sich nun mit einem rasanten Wandel konfrontiert, welcher vor allem das finanzielle Fundament der sozialstaatlichen Einrichtungen zu zerfressen droht. Dazu kommt die Frage, wie Sozial- und Wirtschaftspolitik aufeinander abgestimmt werden können, so dass erstere das Wachstum der Wirtschaft - welche den Sozialstaat heute bezahlt - nicht allzusehr beeinträchtigt. „Nachhaltig“ ist Sozialpolitik schliesslich dann, wenn die absehbaren Wandlungsprozesse derart politisch in den Griff genommen werden können, dass die sozialstaatlichen Einrichtungen überleben können, ohne in Konflikt mit anderen Werten zu geraten.

Heissdiskutiert ist heute vor allem das Gesundheitswesen. Unter den Stichworten „Rationierung“ und „Rationalisierung“ wird die Frage aufgeworfen, welche Medizin sich die Gesellschaft noch leisten kann und welches Mass an Zwei-Klassen-Medizin akzeptabel ist. Vielleicht waren die Ökonomen von der Heftigkeit der angelaufenen Diskussion etwas überrascht, denn der Aspekt „Gesundheit und Ökonomie“ wurde eher am Rande behandelt.

Doch auch die beiden anderen Pfeiler der Sozialpolitik sind Gegenstand harter Debatten. Wer erinnert sich nicht an den Mitte der 90er Jahre aufgeflamten Streit, wie sicher die AHV sein wird? Arbeitslosigkeit und das Problem der „working poor“ - also jener, die trotz Lohnarbeit zu wenig für ihren Lebensunterhalt verdienen - sind ebenfalls von der politischen Diskussionsbühne nicht wegzudenken - insofern sind auch die Ökonomen am Puls der Zeit.

Diese konstatieren nun eine Reihe von Faktoren, welche den Ist-Zustand der heutigen Sozialpolitik bestimmen. Da ist zum ersten der demographische Wandel in den Industrieländer zu nennen, dessen Bedeutung nicht oft genug herausgestrichen werden kann: Die Menschen werden älter und sie bekommen weniger Kinder. Die AHV spürt eine wachsende „Alterslast“, das Gesundheitswesen muss sich auf eine Zunahme von Alterskrankheiten einstellen und selbst der Arbeitsmarkt wird langfristig das Fehlen junger Arbeitskräfte bemerken. Zum anderen verändert sich das wirtschaftliche Umfeld: statt Lohn- gewinnen Kapitalerträge an Bedeutung - eine wichtige Feststellung für Sozialeinrichtungen, die sich über Lohnprozente finanzieren. Ferner öffnet sich die Schere zwischen hohen und tiefen Einkommen und vermindert sich die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaftsschichten. Den Armen bleibt die Wahl zwischen Langzeitarbeitslosigkeit und „working poor“.

Den Ist-Zustand in der Schweizer Altersvorsorge beschrieben beispielsweise die St. Galler Ökonomen Marcel Savioz und Martin Wechsler. Einnahme- wie Ausgabeseite dieser ehrwürdigen Schweizer Institution stehen bekanntermassen unter Druck. Die Hauptfinanzierungsquelle der AHV sind Lohnprozente, deren Ergiebigkeit kontinuierlich sinkt. Bis 1975 konnte man darauf bauen, dass die Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätiger wie auch die Anzahl der Erwerbstätigen steigt - mehr Lohn bedeutete mehr Geld für die AHV. Zudem wurden immer mehr Einkommen der AHV-Plicht unterstellt. Das Sinken der Einnahmen durch die Lohnprozente wird einerseits dadurch erklärt, dass das Wachstum der Produktivität generell sinkt. Andererseits dadurch, dass die Zunahme des Arbeitsvolumens (verursacht dadurch, dass die Anzahl der Erwerbstätigen zugenommen hat) die Abnahme der durchschnittlichen Arbeitszeit nicht mehr wettzumachen vermag. Die Einnahmeseite wird also von der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt, welche sich auf die Arbeitsproduktivität auswirkt.

Die Ausgabeseite steht unter dem Damoklesschwert der demographischen Entwicklung. Die beiden Ökonomen weisen darauf hin, dass die grosse „Flut“ der Rentner - also die geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg - erst noch in die AHV einschwappen wird: im Zeitraum von 2005 bis 2035 ist ein markantes Ausgabenwachstum bei der AHV unumgänglich. „Nachhaltigkeit“ bedeutet hier also, sich auf diese Entwicklung vorzubereiten.

Ganz so gravierend ist die Lage aber nicht, wie Savioz und Wechsler betonen. Selbst beim ungünstigsten Szenario (Nullwachstum der Arbeitsproduktivität) wären mit den heutigen Beitragssätzen und dem 1998 eingeführten Mehrwertsteuer-Prozent höhere Renten also die heutige Minimalrente für alle Rentner finanzierbar. Günstigere (und wahrscheinlichere) Szenarien der wirtschaftlichen Entwicklung lassen den Schluss zu, dass die demographische Entwicklung zu einern Finanzierungslücke der AHV zwischen 20 und 25 Prozent führt. die in Umfragen geäusserte Befürchtung junger Menschen, von der AHV dereinst gar nicht zu bekommen, ist also falsch.

Interessant ist auch der Einfluss des politischen Umfelds bei der Gestaltung der Sozialpolitik durch die demokratische Gesellschaft. Friedrich Schneider, Ökonom aus dem österreichischen Linz, verglich die Entwicklung der Sozialpolitik in repräsentativen und in direkten Demokratien. Vor allem die Politiker repräsentativer Demokratien bedienen sich der Sozialpolitk, um Stimmen zu gewinnen - was ja wenig erstaunt. Studien zeigen, dass die Popularität einer Regierung steigt, wenn Sie Ausgaben im sozialen Bereich beschliesst. Dies führt dazu, dass Regierungen sozialpolitische Ausgaben viel wahrscheinlicher vor Wahlen statt nach Wahlen vornehmen. Wenn nun aber - wie dies jetzt beispielsweise in Deutschland der Fall ist - die stetige Ausweitung der Sozialpolitik beim Bürger spürbar wird, haben die Politiker von repräsentativen Demokratien viel grössere Mühe, Einsparungen im sozialen Bereich vorzunehmen - denn die leute werden sie nicht mehr wählen. dies gilt insbesondere dann, wenn die Wähler und Steuerzahler keinen Einfluss darauf haben, welche Ausgabenprogramme gekürzt werden sollen.

Direkte Demokratien - so die These von Schneider - scheinen mit diesem Problem besser fertig zu werden. Eine Untersuchung von Volksabstimmungen in der Schweiz zeigte, dass der Stimmbürger offenbar recht differenziert entscheidet - und beispielsweise auch die steuerliche Belastung künftiger Generationen einbezieht. Während das eigennützige Verhalten von Regierungen in repräsentativen Demokratien wesentlich dazu beiträgt, die Steuerbelastung zur Finanzierung der Sozialwerke zu erhöhen, besteht in der direkten Demokratie ein wichtiges Korrektiv darin, dass die Bürger selbst über den Umfang der Sozialpolitik entscheiden können - wie dies im Juni im Fall der Mutterschaftsversicherung der Fall sein wird.

Eine verstärkte Steuerlast zugunsten des Sozialstaates hat einen zusätzlichen negativen Effekt, auf den Schneider hingewiesen hat: die Schattenwirtschaft steigt an. Dies verstärkt das Politikerdilemma der „leeren Kassen“.

Insgesamt stellt sich nun die Frage, welchen Weg die Sozialpolitik künftig gehen kann. Eine Reihe von Varianten beschrieb der Würzburger Ökonom Norbert Berthold. Bekanntermassen führt der rasante Wandel in der Weltwirtschaft zu einem steigenden Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung, das von den Sozialwerken gedeckt werden soll - die aber durch gerade diesen Wandel unter Druck geraten. Der sozialdemokratische Weg à la Schweden - also die Lasten des strukturellen Wandels sollen sozialisiert werden - scheitert gemäss Berthold am Erfordernis der Nachhaltigkeit. Lohngleichheit beisielsweise verstärkt den strukturellen Wandel, da Firmen in strukturschwachen Branchen noch schneller Pleite gehen und bei Firmen in Wachstumsmärkten noch höhere Gewinne erzielt werden können.

Nicht viel besser sieht die Bilanz beim sogenannten konservativen Weg aus, wo der Staat die Arbeitnehmer aus der Arbeitswelt „rauskauft“ (durch Arbeitszeitverkürzung, Frührente und schwankende Frauenerwerbsquote). Die Folge ist, dass veränderte Erwerbsverhalten der Leute letztlich erzwungen wird. Der neoliberale Weg - also privatisierung und Dereglulierung der Märkte - kann auf den Strukturwandel zwar am schnellsten und effizientesten reagieren. Der Preis ist aber ebenfalls bekannt - mehr Ungleichheit und das Phänomen der „working poor“.

Angesichts dieser Analyse ist es offenbar sehr schwierig, nachhaltige Sozialpolitik in einem umfassenden Sinn zu betreiben. Deshalb nur eine kurze Skizze der künftigen Entwicklung: Der demographische Wandel wird die Altersvorsorge wie auch die Struktur der Erwerbsbevölkerung erheblich ändern.

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