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Frieden durch Sicherheit oder durch Freiheit?

Welche Idee von Frieden haben die Israelis, welche die Palästinenser? Avishai Margalit, Professor für Philosophie an der Universität Jerusalem, Mitbegründer der Friedensbewegung „Peace Now“ und Autor des Buches „Politik der Würde“, sieht ganz unterschiedliche Konzeptionen zwischen den beiden Völkern, was sich auf den Friedensprozess auswirkt.

Die moderne israelische Gesellschaft wird sehr oft als gespalten dargestellt. Ist dieser Eindruck richtig?

Seit der Gründung Israels haben drei grundlegende Konflikte das Land geprägt: Der Konflikt zwischen Juden und Arabern, der Konflikt zwischen orientalischen und europäischen Juden und der Konflikt zwischen dem religiösen und dem säkularen Judentum. Jeder dieser Konflikte allein hat das Potential, eine Gesellschaft auseinanderbrechen zu lassen. Israel ist aber gerade deshalb nicht zusammengebrochen, weil eben drei und nicht ein Konflikt die Politik beherrschen. Je nach den äusseren Umständen hat ein Konflikt die beiden anderen dominiert und dadurch ist es zu ständig wechselnden Koalitionen gekommen. So mag die israelische Gesellschaft auf den ersten Blick gespalten erscheinen. Die Tatsache, dass Israel gleich mehrfach in einander überlappende Fraktionen zerfällt, hat aber eine tiefergehende Spaltung bisher verhindert.

Was ist angesichts dieser gleich mehrfachen Bruchlinien in Israel die Staatsidee dieses Landes?

Die Staatsidee wurde anlässlich des Zionistenkongresses vor gut hundert Jahren in Basel formuliert: Es galt, den Juden eine Heimstätte zu schaffen, wo sie sicher leben können. Widersprüche waren zwar schon zu Beginn sichtbar, doch das halte ich für absolut normal. Jeder Staat kennt derartige Widersprüche und jeder Staat muss mit diesen leben können.

Welchen Begriff von Frieden haben die Israelis?

Frieden heisst für die Mehrzahl der Israelis die Abwesenheit von Terrorismus, oder anders gesagt: Sicherheit. Man glaubt nicht, dass die Araber den Staat Israel zerstören könnten, vielmehr will man persönliche Sicherheit, die Freiheit vor der Angst, ein Attentatsopfer zu werden. Die Mehrheit will mit den Palästinensern gar nichts zu tun haben, sie würde am liebsten eine Mauer zwischen Israel und den anderen errichten. Was „Separierung“ genau bedeuten soll, ist aber alles andere als klar: Sollen die Wohngebiete getrennt werden, sollen Palästinenser nicht mehr in Israel arbeiten dürfen, soll es zwei getrennte Staaten geben? Israel ist sich überhaupt nicht im klaren darüber, aufgrund welchem Kriterium man sich von den Palästinensern abgrenzen will.

Und wie passt die Siedlungspolitik in dieses Bild?

Sie steht natürlich im Widerspruch dazu. Gerade die Rechte ist in Israel gespalten, wenn es um die Siedlungen geht, denn eine Separierung wird umso schwieriger, wenn sich die jüdischen Siedler überall in den Palästinensergebieten breit machen.

Halten Sie die Diskussion in Israel über den Frieden für eine reife Diskussion?

Grundsätzlich schon. Die Diskussion, wie Frieden mit den Arabern geschlossen werden kann, dauert schon seit über dreissig Jahren. Unterbrochen wird diese Diskussion eigentlich nur von der Zeit des Wahlkampfes. Der Wahlkampf ist eine Zeit der Polemik, nicht der Diskussion. Seit dem Machtantritt Netanjahus ist die Situation aber konfus geworden. Netanjahu ist im Grunde gegen das Abkommen von Oslo, sagt dies aber nicht offen und verhielt sich so, als ob er Oslo doch akzeptieren würde. Das Resultat sehen wir jetzt: Stillstand.

Sehen Sie einen Ausweg?

Drei Ideen umreissen das Diskussionsfeld: Krieg, Frieden und Friedensprozess. Friedensprozess heisst, dass weder Krieg noch Frieden herrscht, sondern ein dynamischer Prozess ohne fix definiertes Ziel - so sehen es die Israelis. Die Palästinenser hingegen haben ein klares Ziel: Unabhängigkeit. Mit anderen Worten: Die Palästinenser verstehen unter dem Wort Frieden in erster Linie Freiheit.

Von dieser Freiheit sind sie aber noch weit entfernt...

Den Palästinensern als Gemeinschaft hat der Friedensprozess bisher ohne Zweifel etwas gebracht. Sie treten auf dem internationalern Parkett mit weit grösserem Gewicht auf, als vor dem Oslo-Abkommen. Der Einzelne sieht aber oftmals keine Verbesserung der Situation, so dass ich Frustrationen durchaus verstehen kann. Dazu kommen natürlich all die negativen Auswirkungen der israelischen Besatzung.

Wie können Israelis und Palästinenser heute zusammen auskommen?

Es kommt ganz darauf an, welche Form von Kommunikation angestrebt werden soll. Jetzt geht es in erster Linie darum, dass beide Seiten politisch miteinander reden können. Ein soziales Verhältnis ist um einiges schwieriger. Aber darum geht es auch gar nicht. Jetzt muss eine politische Lösung gefunden werden, erst danach können soziale oder kulturelle Beziehungen wirken.

Sind sie optimistisch, was die Zukunft betrifft?

Eigentlich schon. Es gibt eine ganze Reihe von Friedensaktivisten in Israel und auch die Mehrheit in diesem Land scheint sich langsam mit einem Palästinenserstaat abzufinden. Diese Form von Separation scheint mir ein notwendiger Schritt, um später wieder zu einer engeren Zusammenarbeit zurückzufinden. Würde jetzt beispielsweise eine Wirtschaftsunion angestrebt, kämen die Palästinenser wieder unter die Räder, denn die israelische Wirtschaft ist weit stärker als jene der Palästinenser.

Wie sieht Ihr Modell aus?

In Zukunft wird es einen israelischen und einen palästinensischen Staat geben mit Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten. Der grösste Teil der jüdischen Siedlungen in der Westbank könnte ins israelische Staatsgebiet eingegliedert werden, dies im Austausch mit israelischem Hinterland beim Gaza-Streifen. Israel und Palästina brauchen jetzt Frieden. Vielleicht wird es ein kalter Friede sein, aber ein stabiler.

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