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Thema im Fokus vom 15. Oktober 2015 

Urteilsfähigkeit – Ethische Kernfragen

Wenn Situationen nach einer Entscheidung – einem „Urteil“ – verlangen, dann ist Urteilsfähigkeit gefragt. Dieser juristische Begriff steht auf einem philosophischen Fundament, in dem sich insbesondere Werte der Aufklärung wiederfinden. Hier soll dieses Fundament, das ethische und erkenntnistheoretische „Steine“ enthält, freigelegt und diskutiert werden; der Fokus liegt dabei auf medizinische Entscheidungen, also etwa, ob man einer bestimmten Behandlung zustimmen will oder nicht. Dazu wird in einem ersten Schritt das juristische Verständnis von Urteilsfähigkeit differenziert dargelegt und in einem zweiten Schritt die damit verbundenen Werte und philosophischen Theorien diskutieren. Kein Thema dieser Analyse sind ethische Fragen als Folge von Urteilsunfähigkeit, also beispielsweise Stellvertreterentscheide oder Zwangsbehandlungen.

Das juristische Verständnis von Urteilsfähigkeit

Aus juristischer Sicht gibt es subjektive und objektive Komponenten von Urteilsfähigkeit (die folgenden Ausführungen beruhen weitgehend auf Aebi-Müller 2014). „Urteilsfähigkeit“ ist ein rechtlicher und kein medizinischer Begriff. Kommt es also bei einem konkreten Behandlungsentscheid zu einem Konflikt, entscheidet letztlich das Gericht über das Vorliegen von Urteilsfähigkeit. Das Zivilgesetzbuch umschreibt in Art. 16  Urteilsfähigkeit als die „Fähigkeit, vernunftgemäss zu handeln“, was die subjektive Seite von Urteilsfähigkeit umreisst. Dies wird in der Rechtsprechung in zwei Aspekte unterteilt: die Fähigkeit, sich einen eigenen vernünftigen Willen zu bilden (Willensbildungsfähigkeit) und die Fähigkeit, entsprechend diesem Willen zu handeln (Willensumsetzungsfähigkeit).

Die Willensbildungsfähigkeit umfasst intellektuelle Kompetenzen (oft auch etwas unscharf Kognition genannt) wie auch die Fähigkeit der Realitätserfassung aufgrund von Lebenserfahrung und Erinnerungsvermögen, so dass die Person die Tragweite eines Entscheids in den Kontext ihrer Lebensumstände einordnen kann. Diese Einschätzung ist kein rein rationales Unterfangen, sondern bedarf einer emotionalen Verwurzelung, aus der sich die Sinnhaftigkeit der Beurteilung erschliesst. Auch setzt die Willensbildungsfähigkeit das Vorliegen eines (zumindest rudimentären) Weltbilds voraus, das die Wertvorstellungen der urteilenden Person zusammenfasst und anhand dessen sich abschätzen lässt, ob der Entscheid des Patienten eine gewisse Kohärenz zu den eigenen Wertvorstellungen hat. Es geht hier nota bene nicht darum, das Weltbild als solches zu qualifizieren – etwa um bei einem „falschen“ Weltbild der Person die Urteilsfähigkeit abzusprechen; ein oft gewähltes Repressionsinstrument von Diktaturen. In gewissen Fällen (z.B. wahnhafte Vorstellungen oder Halluzinationen) können sich aber auch hier schwierige praktische Fragen stellen. Schliesslich misst sich die Willensbildungsfähigkeit auch an einer gewissen Stabilität des Willens – ständig wechselnde Präferenzen bilden hier ein Indiz für mangelnde Urteilsfähigkeit.

Die Willensumsetzungsfähigkeit zeigt sich primär in der Interaktion mit anderen, an der Entscheidungsfindung beteiligten Personen. Sie umfasst beispielsweise die Fähigkeit, einer fremden Willensbeeinflussung in normalem Mass zu widerstehen; es muss also eine gewisse Authentizität des Willens gegeben sein. Die besondere Verletzlichkeit aufgrund von Krankheit bildet hier natürlich ein wichtiger Faktor, denn insbesondere bei tatsächlicher oder vermeintlicher Abhängigkeit des Patienten von bestimmten Personen kann ein ungebührliches Mass an Beeinflussung bestehen. In solchen Fällen kann es auch vorkommen, dass der Person ein eigener, vernunftgemässer Willensentschluss gelingt, sie diesen aber angesichts entgegenstehender Auffassungen Dritter nicht in die Tat umsetzen kann. Solche systematisch bestehenden äusseren Zwänge sind bei der Beurteilung der Urteilsfähigkeit ebenfalls zu berücksichtigen.

Beiden subjektiven Faktoren liegt eine beträchtliche Unschärfe zugrunde, man muss also im konkreten Fall abwägen, inwieweit beispielsweise eine ausreichende Kognition vorhanden ist. Bei den objektiven Faktoren ist dieses „Messproblem“ geringer, weil für die meisten im Gesetzesartikel formulierten Bedingungen für Urteilsunfähigkeit – Kindesalters, geistige Behinderung, psychische Störungen, Rausch oder ähnlicher Zustände – weitgehend standardisierte Erhebungsverfahren bestehen. So gelten mit der Inkraftsetzung des neuen Erwachsenenschutzrechts am 1. Januar 2013 die Begriffe „geistige Behinderung“, „psychische Störung“ und „Rausch“ als objektivierbar im Sinn, dass diese Begriffe auf anerkannte Krankheitsbilder beruhen, wo man auf diagnostische Guidelines (wie beispielsweise DMS-5) zurückgreifen kann. Natürlich ist auch hier im Einzelfall zu beurteilen, inwieweit diese Störungen tatsächlich bestehen. Zudem ist nicht das Vorliegen einer solchen Störung an sich für die Beurteilung der Urteilsfähigkeit relevant, sondern die Frage, ob diese Störung in einem konkreten Fall tatsächlich einen Einfluss auf das Urteilsvermögen hat. Schliesslich muss erwähnt werden, dass auch schwere physische Erkrankungen (z.B. Diabetes) unter Umständen Rückwirkungen auf die geistigen Fähigkeiten einer Person haben und daher deren Urteilsfähigkeit beeinträchtigen können.

Beim im Gesetz erwähnten Punkt „Kindesalter“ ist die Sachlage komplexer. Zwar sind die zeitlichen „Endpunkte“ – ein Neugeborenes bzw. ein Jugendlicher kurz vor der Volljährigkeit – bezüglich dem Vorliegen von Urteils(un)fähigkeit unkontrovers. Ob Urteilsfähigkeit im Kindesalter vorliegt, verlangt aber nach einer differenzierten Betrachtung. Wichtig ist hier die Abgrenzung der Urteilsfähigkeit von der (rechtlichen) Handlungsfähigkeit, die das Kriterium der Volljährigkeit definitionsgemäss miteinschliesst. Ein Kind ist rechtlich nie handlungsfähig (kann also z.B. keinen gültigen Behandlungsvertrag abschliessen), es kann aber durchaus urteilsfähig hinsichtlich eines konkreten medizinischen Entscheids sein. In der rechtlichen Literatur geht man derzeit davon aus, dass ab dem 7. Altersjahr Urteilsfähigkeit bezüglich begrenzter Entscheide von geringer Tragweite als gegeben betrachtet werden kann. Ab einem Alter von 12 Jahren kann man für einfachere Eingriffe mit der Bejahung der Urteilsfähigkeit rechnen. Für langdauernde bzw. komplexe Therapien und Behandlungen ist aber vor dem 16. Lebensjahr eher Zurückhaltung bei der Annahme der Urteilsfähigkeit angebracht.

Philosophische Aspekte von Urteilsfähigkeit

Die obigen Überlegungen machen deutlich, dass Urteilsfähigkeit in ein komplexes Menschen- und Weltbild eingebettet ist, das Bezüge zu vielen philosophischen Theorien hat. Ein Kernelement ist die Vorstellung des „vernünftigen“ und „autonomen“ Menschen, der sich seiner Urteilsfähigkeit bedient. Entsprechend ist die Urteilsfähigkeit der Schlüssel zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Aus rechtlicher Sicht ist die Einwilligung eines Urteilsunfähigen in einen Behandlungsentscheid unwirksam und der ärztliche Eingriff ist bei dieser Sachlage grundsätzlich widerrechtlich. Die Beachtung der Urteilsfähigkeit ist damit ein Kernelement des Respekts vor dem Patienten: man achtet diesen als autonomen, vernunftbegabten Menschen.

Diese Autonomie ist aber nicht absolut gesetzt, sondern ist an diverse Bedingungen geknüpft, damit Urteilsfähigkeit wirklich gegeben ist. Zum einen ist Urteilsfähigkeit ein Ziel von Erziehung und Bildung, also Teil eines Gesellschaftsmodells, das auf vielfältige Weise auf das (wachsende) Individuum einwirkt, mit dem Ziel, dessen Urteilsfähigkeit zu stärken. Gewiss bestehen hier soziale und kulturelle Unterschiede hinsichtlich der Betonung von Urteilsfähigkeit. So findet sich beispielsweise in der Medizinethik eine Debatte zur Frage, inwieweit der Fokus auf Autonomie eine „westliche“ Vorstellung sei, oder ob mit dem Fokus auf den urteilsfähig getroffenen Entscheid andere Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung wie beispielsweise Fürsorge in den Hintergrund gerückt werden (hierzu nur zwei Beispiele: Rehbock 2002, Westra et al. 2009). Zum anderen ist Urteilsfähigkeit im konkreten Fall an wichtige Bedingungen geknüpft. So kann nicht vorausgesetzt werden, dass die vor dem Entscheid stehende Person alle relevanten Informationen hat. Diese müssen ihr auf eine Weise vermittelt werden, dass sie sowohl kognitiv verständlich sind, aber auch verstehbar hinsichtlich der persönlichen Wertsetzungen der Person. Ohne diesen „Input“ bleibt Urteilsfähigkeit gewissermassen leer.

Eine interessante Erweiterung des Begriffs der Urteilsfähigkeit zeigt sich im oben geschilderten Einbezug der emotionalen Dimension. Dies geht einher mit einer in der Moralphilosophie nun schon seit einigen Jahren vertretenen Position, wonach Emotionen für moralisches Handeln und ethisches Nachdenken von grosser Bedeutung sind, indem sie eine gehaltvolle Wahrnehmungen der Realität erlauben und es damit ermöglichen, die moralische Bedeutung von Situationen überhaupt erst zu erfassen (siehe dazu beispielsweise Ammann 2007, Prinz 2007). Der Zusammenhang von Kognition und Emotion ist derzeit ein viel untersuchtes Gebiet in Psychologie und Philosophie – und es ist folgerichtig, dass bei der begrifflichen Bestimmung von Urteilsfähigkeit auch Emotionen eine Rolle spielen. Auch hier stellen sich natürlich praktische Fragen, ob bestimmte Emotionen denn nun als Hinderlich oder förderlich für Urteilsfähigkeit angesehen werden. Ein emotional sehr labiler Patient, beispielsweise aufgrund einer psychischen Erkrankung, einem schockähnlichen Zustand nach einer fatalen Diagnose oder aufgrund einer medikamentösen Behandlung, kann den Realitätsbezug des Betroffenen beeinträchtigen und damit der Urteilsfähigkeit entgegenwirken.

Die juristische Bestimmung von Urteilsfähigkeit schliesst zudem auch erkenntnistheoretische Faktoren mit ein. So wird eine gewisse Kohärenz des Weltbildes sowie der konkreten Entscheidungen einer Person erwartet. Auch hier geht es nicht um eine strikte Widerspruchsfreiheit im logischen Sinn, was die praktische Frage nach „akzeptablen“ Widersprüchen im Urteilen stellt. Interessant ist diesbezüglich die Idee so genannter „Odysseus-Anweisungen“, mit der ein Patient seine Urteilsfähigkeit nutzt, um ein in Zukunft mögliches, aber als widersprüchlich erachtetes Handeln zu verhindern. Der Name orientiert sich an einer bekannten Episode des griechischen Sagenhelden Odysseus: Um dem verlockenden, aber todbringenden Gesang der Sirenen widerstehen zu können, wies Odysseus seine Gefährten an, ihn an den Mastbaum zu binden und seinen Bitten, ihn freizulassen, so lange nicht nachzukommen, bis der Gesang der Sirenen ihn nicht mehr erreichen könne. Das Entsprechende ist in der Medizinethik die Selbstbindungen von Patienten in Form der vorwegnehmenden Bitte an ihre Ärzte, den eigenen späteren Behandlungspräferenzen nicht zu folgen (Hallich 2011). Man kann diese Anweisung als einen Spezialfall einer Patientenverfügung auffassen – aber mit dem Unterschied, dass in der Behandlungssituation ein der Vorausverfügung entgegenstehender Wille vorliegt, gegen den gehandelt werden muss. Die Sachlage wird noch komplizierter, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass der Patient in der Behandlungssituation weiterhin urteilsfähig sein könnte – die Person autorisiert also andere Personen zu paternalistischem Handeln.

Solche Odysseus-Anweisungen stellen für den juristischen Begriff der Urteilsfähigkeit durchaus eine Herausforderung dar: Soll das Verfassen einer solchen Anweisung als Ausdruck von vorausschauendem, vernünftigen Denken angesehen werden mit dem Ziel, eine Kohärenz der eigenen Entscheidungen zu bewahren? Und ist damit der Patient im Zustand, in dem die Anweisung gültig wird, automatisch nicht mehr urteilsfähig? Oder handelt es sich hier um eine übersteigerte Form der Selbstbindung, die ausser Acht lässt, dass sich Präferenzen in neuen Situationen verändern können? Entsprechend bleibt der Patient urteilsfähig und die Anweisung wird hinfällig. Auch hier wird es keine für alle Fälle gleichermassen gültige Antwort geben.

 

Weiterführende Literatur

Regina Aebi-Müller. 20014. Der urteilsunfähige Patient – eine zivilrechtliche Auslegeordnung. Jusletter, 22. September 2014.

Christoph Ammann. 2007. Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik. Stuttgart: Kohlhammer.

Oliver Hallich. 2011. Selbstbindungen und medizinischer Paternalismus. Zum normativen Status von „Odysseus-Anweisungen“. Zeitschrift für philosophische Forschung 65(2): 151-172.

Jesse Prinz. 2007. The Emotional Construction of Morals. Oxford: Oxford University Press.

Theda Rehbock. 2002. Autonomie – Fürsorge – Paternalismus. Zur Kritik (medizin-)ethischer Grundbegriffe. Ethik in der Medizin 14(3): 131-150

Anna E. Westra, Dick L. Willems, Bert J. Smit. 2009. Communicating with muslim parents: “the four principles” are not as culturally neutral as suggested. European Journal of Pediatry 168(11): 1383–1387.


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