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Ethische Fragen zur Forschung am Menschen

Nur auf wenigen anderen Gebieten der Medizinethik spielen historische Ereignisse eine derart zentrale Rolle bei der Ausgestaltung der ethischen Diskussion wie bei der Forschung am Menschen. Meist handelt es sich dabei um Negativbeispiele, die als Ausdruck einer eklatanten Verletzung grundlegender menschlicher Rechte verstanden werden. Die verbrecherischen Versuche im Machtbereich der Nationalsozialisten gelten dabei gemeinhin als Zäsur und führten 1949 zum so genannten „Nürnberger Code“, der ersten internationalen Richtlinie zur Forschung am Menschen. Doch die Wirkung dieser ersten Regelung war eher gering. Erst neuere Skandale in den 1960er-Jahren im Verbund mit einer wachsenden Bedeutung von Werten wie Patientenautonomie haben den heute bestimmenden Diskussionsrahmen aufgebaut. Dieser geht von einer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber der Forschung aus mit dem Ziel, Menschen – insbesondere so genannt „nichteinwilligungsfähige“ – vor Zugriffen der Forschung zu schützen.

Der Blick zurück darf aber nicht ausblenden, dass auch andere – positive – Darstellungen der Forschung am Menschen existieren. Im Fortschrittsoptimismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde die Forschung am Menschen gleichsam als moralische Pflicht verstanden. Der Selbstversuch wurde gar zur Ikone medizinischen Heldentums – so zum Beispiel Werner Forssmanns Herzkatheter-Selbstversuch im Jahr 1929 in Berlin, der zu einer Legende der Kardiologie wurde. Und auch die Emanzipation des Patienten ab den 1960er-Jahren ging einher mit dem Wunsch von Patienten, sich zunehmend für Versuche zur Verfügung zu stellen. Die Entwicklung des Cochlea-Impantats ist dafür ein Beispiel: Während führende Wissenschaftler jegliche Versuche in diesem Bereich als klar unethisch ablehnten, brachten der dringliche Wunsch eines Patienten, das experimentelle Interesse eines Arztes und die darauffolgende Medienberichterstattung die Entwicklung dieses Verfahrens entscheidend voran. Nur schon diese wenigen Beispiele zeigen die ethische Ambivalenz, die eine Forschung am Menschen immer schon begleitet hat.

Was ist „Forschung am Menschen“?

Der historische Blick zurück ist natürlich mit der Unschärfe konfrontiert, was „Forschung am Menschen“ überhaupt ist. Die Geschichte der Medizin ist eine Anhäufung von „trial and error“, von Versuch und Irrtum, und wohl erst die heutige funktionale Ausdifferenzierung des Gesundheitssystems macht es möglich, einigermassen klar zu definieren, was der Begriff „Forschung am Menschen“ genau meint. So wird die Forschung vom so genannten „Heilversuch“ unterschieden, bei dem es im Einzelfall darum geht, beispielsweise ein bestehendes Medikament für eine neue Indikation anzuwenden – in der mehr oder weniger begründeten Hoffnung, etwas für den Patienten tun zu können. Der Fokus ist aber klar auf das Patientenwohl gerichtet. Die Forschung am Menschen zeichnet sich demgegenüber durch einen höheren Grad an Systematisierung und methodischem Vorgehen aus, indem beispielsweise ein Heilversuch bei einer ganzen Gruppe umgesetzt wird, um statistische Aussagen zu gewinnen. Eine trennscharfe Abgrenzung ist hier aber schwer zu erreichen.

Mit Blick auf wissenschaftliche Anwendungsfelder ergibt sich ebenfalls rasch ein schwer überblickbares Feld. Obgleich meist medizinische Versuche im Zentrum des ethischen Diskurses stehen, werden natürlich auch in anderen Forschungsgebieten – so zum Beispiel in der Psychologie oder auch der experimentellen Ökonomie – Experimente mit Menschen gemacht. Dies können Wahrnehmungsversuche, so genannt experimentelle Spiele zu Sozialverhalten etc. sein. Je nach Fall unterliegen auch solche Versuche ethischen Richtlinien und werden innerhalb von Universitäten durch Ethikkommissionen geprüft. Die nachfolgenden Überlegungen fokussieren biomedizinische Versuche, wobei die genannten ethischen Prinzipien aber auch für andere Arten von Experimenten Anwendung finden können.

Eine weitere definitorische Frage betrifft den Begriff „Mensch“. In den meisten Diskussionen geht es um konkrete Einzelpersonen, die z.B. vor der Entscheidung stehen, an einem klinischen Versuch teilzunehmen oder nicht. Doch die Versuche können auch biologisches Material von Menschen (z.B. Zellen), Verstorbene, Embryonen oder gar Personendaten umfassen. Der zur Abstimmung stehende Verfassungsartikel orientiert sich an diesem „weiten“ Verständnis von Forschung.

Giovanni Maio hat in seinem Buch zur Ethik der Forschung am Menschen (siehe Literaturverzeichnis) eine Ausdifferenzierung von Humanexperimenten vorgenommen, die vorab für deren ethische Bewertung relevant sind. Diese lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Ethische Gründe für und gegen Forschung

Gemäss Maio lassen sich vier moralische Positionen zur Forschung am Menschen unterscheiden, die sich im historischen Verlauf immer wieder in unterschiedlicher Stärke manifestiert haben. Die erste Position hält Humanexperimente für ein moralisches Tabu. Insbesondere in der Antike war der ärztliche Ethos daran orientiert, dass Medizin sich auf das vorhandene Wissen konzentrieren sol. Der heutige Imperativ zur Anhäufung neuen Wissens hatte noch keine Geltung. Die entgegengesetzte Position hält Humanexperimente für eine moralische Pflicht – eine Haltung, die insbesondere im 19. Jahrhundert, als die experimentelle Methode umfassend Eingang in die Medizin fand, dominierend war. Eine dritte Position hält Humanexperimente für eine moralische Aporie – also für ein an sich unlösbares Problem, dem dennoch nicht ausgewichen werden kann. Hier wird das ärztliche Gewissen zur massgebenden moralischen Instanz. Die vierte Position schliesslich hält Humanexperimente für ein lösbares ethisches Problem. Diese Haltung ist insbesondere heute massgebend und drückt sich aus, indem möglichst präzise definiert wird, wann und unter welchen Bedingungen Versuche an Menschen statthaft sind.

Mit Blick auf die ethischen Gründe für Humanforschung finden vorab zwei Argumentationsmuster Anwendung: Zum einen wird betont, dass Forschung zu neuen Diagnosemöglichkeiten und Therapien führen könne, die letztlich den leidenden Menschen zugute kommen. Dieses Argumentationsmuster schliesst an die Semantik des Heilens und Helfens an, die prägend für den medizinischen Ethos ist. Zum anderen wird aber auch der Wert der Erkenntnis an sich betont, womit man an ein Menschenbild anschliesst, das Neugierde und die Suche nach Wissen als einen zentralen Teil des Menschseins darstellt. In einem wichtigen Unterfall, nämlich der Forschung an Nichteinwilligungsfähigen (siehe unten), spielt auch das Argument der Gerechtigkeit eine wichtige Rolle – indem darauf verwiesen wird, dass es ungerecht sein kann, wenn bestimmte Personengruppen vom potenziellen Nutzen der Forschung systematisch ausgeschlossen werden.

Ethische Gründe gegen Humanforschung beruhen auf (mindestens) fünf Argumentationsmustern (Maio, 2002): So wird das Humanexperiment als Verstoss gegen den ärztlichen Heilauftrag angesehen, weil nicht voraussehbar ist, ob dem Betroffenen wirklich geholfen werden kann (bzw. wird im Fall von Placebo-Versuchen wissentlich in Kauf genommen, dass man nicht helfen kann). An diesen Punkt schliessen zwei weitere Argumentationsmuster an: So wird das Humanexperiment als Verstoss gegen das Prinzip der körperlichen Integrität des Betroffenen (ein vorab aus juristischer Tradition stammender Einwand) sowie als Verstoss gegen das Prinzip der Risikominimierung verstanden. Letztere Argumentation ist aber ambivalent, da Versuche möglicherweise weniger riskant sind, als der „natürliche“ Krankheitsverlauf.

Zentral in der heutigen Debatte ist das Argumentationsmuster, das Humanexperimente als Verstoss gegen das Prinzip der Menschenwürde ansieht. Diese Zentralstellung ist plausibel, da der wissenschaftliche Charakter eines Experiments immer den Charakter hat, die Versuchsperson zu einem „Mittel zum Zweck“ zu machen. Die Stärke des Arguments hängt freilich davon ab, wie stark diese Instrumentalisierung im Einzelfall ist. Ein fünftes Argumentationsmuster – Humanexperimente als Verstoss gegen den Willen Gottes – hat in der heutigen, säkularisierten Zeit an Bedeutung verloren.

Nebst diesen Argumentationsmustern existiert auch eine kritische Haltung, die sich an der veränderten kulturellen Praxis der Forschung in der Medizin orientiert. So wird für die Karriere von Medizinern Forschungstätigkeit bedeutsamer. Somit entwickelt sich eine Interessenlage – die durch die zunehmende Bedeutung industriefinanzierter Forschung verstärkt wird –, bei der die Gefahr zunimmt, ethische Fragen zu vernachlässigen. Der Kern der ethischen Ablehnung verweist dann aber wieder auf die oben genannten Argumentationsmuster.

Ein ethischer Rahmen für Forschung am Menschen

Die nun schon seit vielen Jahren laufenden ethischen Debatten zur Forschung am Menschen haben zu einem gewissen Konsens hinsichtlich der Voraussetzungen für die ethische Legitimität von Humanexperimenten geführt. Demnach sollte folgenden Prinzipien Folge geleistet werden (Maio, 2002):

Während klar ist, dass Experimente ohne Nutzen bzw. mit sehr hohem Risiko wenn überhaupt nur in Einzelfällen ethisch legitim sein können, ist die Sachlage bei fehlender Einwilligung schwieriger. So gibt es Gruppen von Menschen (z.B. Säuglinge, Demente), bei denen die Fähigkeit zur Einwilligung nicht gegeben ist, wo aber durch Forschung dennoch Nutzen für die Betroffen selbst oder zumindest für andere Mitglieder der Gruppe erwartet werden kann. Dies ist denn auch der ethisch heikelste Bereich, besonders wenn die Forschung so genannt „fremdnützig“ ist – also nicht den Betroffenen selbst hilft. Basierend auf den oben genannten Argumentationsmustern wird hier vorab entweder das Instrumentalisierungsverbot bemüht und ein striktes Verbot gefordert, oder mit Hinweis auf ein „Solidaritäts-Argument“ darauf hingewiesen, dass es einem gesetzlichen Vertreter möglich sein soll, für die urteilsunfähige Person in eine solidarische Handlung einzuwilligen. Doch selbst wenn letzterer Weg beschritten werden sollte, sind die Anforderungen an den Fremdnutzen und die Minimierung des Risikos hoch.
 


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