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Hans Wolfgang Brachinger: Eine Reaktion auf steigendes Risiko

Hans Wolfgang Brachinger studierte Mathematik und Volkswirtschaft an den Universitäten München, Regensburg, Berkeley und Tübingen. Derzeit ist der ordentlicher Professor an der Universität Fribourg und Direktor des dortigen Seminars für Statistik. Ab März dieses Jahres amtet er als Vizerektor der Universität. Zudem ist er Mitglied der Begleitgruppe Landesindex 2000. Diese berät das Bundesamt für Statistik bei der für das Jahr 2000 anstehenden Revision des Indexes für Konsumentenpreise. Wissenschaftlich tätig ist Brachiner vor allem im Bereich der Risikoforschung.

Bieler Tagblatt: Es gibt das bekannte Bonmot von Benjamin Disraelis, wonach es drei Arten von Lügen gibt: Lügen, verdammte Lügen und Statistik. Wie lebt man als Statistiker mit diesem Vorwurf?

Hans Wolfgang Brachinger: Eigentlich gut. Wenn mir jemand vorwirft, Statistik sei eine Form der Lüge, so entgegne ich mit der Frage, was denn die Wahrheit sei. Da stellt sich dann schnell hinaus, dass der Wahrheitsbegriff, an dem ich die „Lügenhaftigkeit“ der Statistik messen soll, meist gar nicht präzise definiert ist. Hier zeigt sich ein naives Verständnis von Statistik, denn diese sind meist nicht nur ein einfaches Zählproblem, sondern operieren mit Begriffen, die zuerst definiert werden müssen. Die Frage „Wie viele Arbeitslose gibt es in der Schweiz?“ ist kein triviales Problem, denn es ist gar nicht so klar, was eigentlich ein Arbeitsloser ist. Statistik ist generell gesagt eine Technologie zur Informationsbeschaffung. Die einzelnen Techniken sind aber unterschiedlich und so lassen sich mittels Statistik auf verschiedene Arten von Information gewinnen. „Widersprechen“ sich Statistiken auf den ersten Blick, so ist nicht die eine Information richtig und die andere falsch. Vielmehr handelt es sich um verschiedene Informationen. Um diese zu beurteilen, muss man genau wissen, wie die Statistiken zustande gekommen sind.

Wie beurteilen Sie denn die Fähigkeit der „Statistik-Konsumenten“, diese Zahlen überhaupt richtig beurteilen zu können?

Es ist in der Tat so, dass oft Leute statistische Zahlen verwenden, ohne dass sie hinreichende statistische Kompetenz haben. Bei jeder Statistik müssen beispielsweise Fragen gestellt werden wie: Wie wurden die zentralen Begriffe - z.B. „Arbeitsloser“ - definiert, d.h. wie wurde das sogenannte Adäquationsproblem gelöst? Auf welche Weise wurde eine Stichprobe gezogen? Man ist sich oftmals gar nicht bewusst, wie wichtig diese Probleme sind, oder anders gesagt: Die statistische Kompetenz der Öffentlichkeit ist unterentwickelt. Angesichts dieser Unwissenheit besteht auch ein gewisses Missbrauchspotential bei Statistiken.

Gehört Statistik demnach zum Grundwissen eines jeden?

Ich bin mir zwar bewusst, wie voll die Lehrpläne in den Schulen jetzt schon sind. Dennoch glaube ich, dass das Vermitteln von Wissen über Statistik eine Aufgabe der Schule sein sollte. Warum sollte man nicht älteren Lernstoff durch modernere ersetzen?

Heutzutage wird man mit statistischen Informationen geradezu überflutet. Wird die Statistik nicht überschätzt?

Es ist sicherlich ein zentrales Merkmal unserer Zeit, dass laufend mehr Statistiken produziert werden - darunter auch ein gewisser Anteil an unseriöser Information. Dieses Phänomen zeigt meines Erachtens, dass ein entsprechender Bedarf vorhanden ist, der von einer immer risikoreicher werdenden Gesellschaft herrührt. Denkt man etwa an die Planungsgrundlagen von Unternehmen, so zeigt sich, dass immer kurzfristiger und unter zunehmender Unsicherheit entschieden werden muss. Entsprechend wächst das Bedürfnis nach Informationen. Ich halte das nicht für falsch. Ich gehe davon aus, dass Entscheide unter bestmöglichster Kenntnis der Informationslage getroffen werden sollten. Statistik ist ein zentrales Mittel, um zu solchen Informationen zu kommen und sollten demnach entsprechend berücksichtigt werden.

Angesichts der Bedeutung, die der Statistik heute zukommt: Wie würden Sie den „Ehrenkodex“ eines Statistikers umschreiben?

Das wichtigste Kriterium für die Beurteilung der Arbeit eines Statistikers ist Transparenz. Für jeden muss klar ersichtlich und nachvollziehbar sein, wie man zu einem bestimmten statistischen Resultat gekommen ist. Zudem muss offengelegt werden, wie Daten interpretiert werden können, falls ein solcher Spielraum besteht. Diese Problematik zeigt sich besonders deutlich bei der Arbeitslosenstatistik. Es gibt verschiedene Konzepte von Arbeitslosigkeit und demnach auch unterschiedliche statistische Daten. Allein in der Schweiz hat man zwei verschiedene Begriffe von Arbeitslosigkeit - und damit auch zwei verschiedene Arten von „Arbeitslosen“. In der öffentlichen Diskussion werden diese Begriffe oft vermischt.

Macht es demnach überhaupt Sinn, Arbeitslosenzahlen der 30er Jahre mit heutigen zu vergleichen, wie das zuweilen geschieht?

Dies macht einerseits nur dann Sinn, wenn man vorgängig untersucht, welche Begriffe von Arbeitslosigkeit damals und heute verwendet wurden und auf welche Art und Weise die Zahlen erhoben wurden. Daraus lässt sich feststellen, ob die Daten vergleichbar sind. Andererseits muss man bei der Interpretation der Zahlen auch die verschiedenen Umstände berücksichtigen. Arbeitslosigkeit war in den 30er Jahren ein weit massiveres Problem, weil das heutige soziale Netz damals noch gar nicht vorhanden war. Das macht den entsprechenden Vergleich in zweifacher Hinsicht kritisch.

Betrachtet man die Zukunft des Arbeitsmarktes, vertreten Sie eine interessante These: Sie behaupten, angesichts der demographischen Entwicklung muss das sogenannte Erwerbspersonenpotential (vgl. mit Kasten) vergrössert werden. Wie soll das geschehen?

Dass der Anteil der älteren Menschen in der Bevölkerung künftig zunehmen wird, ist unbestritten. Im Kontext des heutigen Systems der Sozialversicherung spricht man von „Alterslast“, d.h. immer weniger Junge zahlen für immer mehr Alte AHV-Beiträge. Dieses Problem muss gelöst werden, entweder indem man die Anzahl der nichtarbeitenden Alten verkleinert oder jene der Arbeitenden vergrössert. Dies kann meiner Auffassung nach auf zwei Arten geschehen: Einerseits kann man die Grenze zwischen „arbeitend“ und „alt“ verschieben - man verlängert also die Lebensarbeitszeit und erhöht das Rentenalter. Andererseits kann man das Potential der Erwerbstätigen besser nutzen, indem etwa die Erwerbsquote der Frauen erhöht wird. Dieser Prozess ist bereits im Gang und sollte politisch positiv begleitet werden. Frauen sollten also die Möglichkeit haben, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen - beispielsweise durch ein erhöhtes Angebot an Kinderkrippenplätzen. Die demographische Herausforderung für die Altersvorsorge muss also mit zwei Mitteln angegangen werden: Durch eine längere Lebensarbeitszeit und durch die Erhöhung der Frauenerwerbsquote.

Beide Forderungen stossen aber auf politischen Widerstand, besonders die angesprochene Erhöhung des Rentenalters...

Die heutige Diskussion über die Senkung des Rentenalters zwecks Verminderung der Arbeitslosigkeit ist kurzsichtig. Tatsächlich liegt das Problem darin, das die im heutigen System liegende Gründe dazu führen, dass alte Arbeitnehmer zunehmend ausgeschlossen werden, weil sie zu teuer und weniger produktiv sind. Für den Unternehmer macht es vielleicht Sinn, solche Arbeitnehmer loszuwerden, volkswirtschaftlich akzentuiert sich aber das Problem der Finanzierung der Altersvorsorge.

Wäre es beispielsweise sinnvoll, den Lohn älterer Arbeitnehmer wieder zu senken, damit sie auf dem Markt konkurrenzfähiger werden?

In Europa ist das ein ganz heisses Eisen, doch ich halte das für einen gangbaren Weg. Nehmen wir das Beispiel Japan: Dort hat man erkannt, das man um eine Verlängerung der Erwerbstätigkeit im Alter nicht herumkommt. Vom Senioritätsprinzip bei der Entlohnung ist man abgekommen. Man hat andererseits auf ein für ältere Arbeitnehmer günstigeres Umfeld geachtet. Auch in der Schweiz müssen die Personalabteilungen von ihrer jugendzentrierten und alterseliminierenden Politik wegkommen. Es braucht generell eine positivere Einstellung der Wirtschaft zum Alterungsprozess.


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